474 V. Reichstag. Art. 32.
daß an die gewählten Abgeordneten die Forderung eines Minimums von
finanzieller Unabhängigkeit gestellt wurde. Aber ebenso wie die Ergebnisse
des allgemeinen Wahlrechts große Überraschungen gebracht haben, die über
alle vorausgesehenen Folgen weit hinausgingen, find die heilsamen Wirkungen
der Diätenlofigkeit überschätzt worden; sie hat sich gegenüber dem allgemeinen
Wahlrecht nicht als das Sicherheitsventil bewährt, als welches fie bei ihrer
Einführung in die Verfasfung angesehen worden war, und fie hat für die
Leistungsfähigkeit des Parlaments schädliche Nebenwirkungen gehabt, auf die bei
ihrer Einführung wahrscheinlich nicht gerechnet worden ist. Die Einführung
der Diätenlofigkeit stellte ebenso wie die Einführung des allgemeinen Wahlrechts
die Verwirklichung einer neuen Idee ohne Vorgang und Beispiel dar, und
diesem Umstand ist in Ansehung der Diätenlofigkeit damit Rechnung getragen,
daß eine spätere Reform im Wege der Gesetzgebung von Anfang an von
dem maßgebendsten Vertreter der Verbündeten Regierungen, dem Fürsten
Bismarck, als möglich hingestellt wurde. Dies gilt aber nur für die
Reichstagsdiäten, nicht für das allgemeine Wahlrecht, das für die Verfassung
in ganz anderem Sinne fundamental ist, als die Entschädigung der Reichs-
tagsmitglieder; vgl. die Erklärungen des Fürsten Bismarck in der Reichs-
tagsfitzung v. 29. März 1867 St.B. 474, 476. Während die Verbündeten
Regierungen ihren grundsätzlich ablehnenden Standpunkt noch bis zum
Jahre 1906 festhielten, ist ohne förmliche Anderung des Art. 32 die strenge
Durchführung des Prinzips schon einige Male unterbrochen worden. Es
ist nämlich für die Mitglieder der Kommission zur Vorbereitung der Reichs-
justizgesetze auf Grund der Reichsgesetze v. 23. Dez. 1874 R.G. Bl. S. 194
u. v. 20. Febr. 1876 R.G. Bl. S. 23 die Bewilligung von Entschädigungen
zugelassen worden, mit Rücksicht darauf, daß diese Kommission ihre Tätig-
keit in dem zwischen den Sitzungsperioden befindlichen Zeitraum fortsetzen
sollte. Während es sich hier um eine Entschädigung nur für die außer-
halb der Sitzungsperiode ausgeübte Tätigkeit handelt, ging formell weiter
das Gesetz betr. die geschäftliche Behandlung des Entwurfs eines Zolltarif-
gesetzes v. 20. Juni 1902 R.G. Bl. S. 235, wonach den Mitgliedern der
zur Vorberatung des Gesetzentwurfes eingesetzten Kommission eine Ent-
schädigung für die Teilnahme an den Sitzungen der Kommission gewährt
wurde, die „während der Unterbrechung der Plenarverhandlungen“ statt-
fanden. Hier erstreckte sich die Entschädigung also auch auf den Zeitraum
der Vertagung. Eine gewisse Durchbrechung des Prinzips der Diätenlosig-
keit lag endlich in der Gewährung freier Eisenbahnfahrt nebst Gepäck-
beförderung, die für die Reichstagsmitglieder i. J. 1874 zum Verkehr auf
allen Bahnstrecken eingeführt, später aber durch den Bundesratsbeschluß
v. 13. Nov. 1884 auf die Strecken zwischen dem Wohnort des Abgeordneten
und Berlin eingeschränkt wurde; val. Reichsges. v. 18. Febr. 1874 S. 15
und St. B. des Reichstags 1874 S. 61, 1884/85 S. 17 f.. u. 434 ff. Denn
wenn auch, wie der Staatsminister Delbrück in der Reichstagssitzung v.
16. Febr. 1874 St. B. 61 mit Recht hervorhob, durch die Gewährung der
freien Eisenbahnfahrt nicht der Wortlaut des Art. 832 getroffen wurde, weil
darin weder eine Besoldung noch eine Entschädigung der Reichstagsmit-
glieder lag, so handelt es sich dabei doch um eine finanzielle Entlastung
der Abgeordneten für Ausgaben, die durch ihre verfafsungsmäßigen Funktionen
verursacht werden, und in seiner wirtschaftlichen Wirkung bedeutet das