V. Reichstag. Art. 82. 475
Recht der freien Eisenbahnfahrt nichts anderes als den Ersatz für die
tatsächlichen Auslagen, die den Abgeordneten durch die Eisenbahnfahrt
erwachsen.
Um bei den Verbündeten Regierungen aber die völlige Umkehr ihrer
Stellung herbeizuführen, die in dem Reichsgesetz v. 21. Mai 1906 zum
Ausdruck kam, waren eine Reihe von Momenten notwendig, deren mehr
ader weniger ausschlaggebendes Gewicht im einzelnen allerdings nicht fest-
zustellen ist. Zunächst hat, wie anzunehmen ist, der Reform den Boden die
Tatsache bereitet, daß der Reichstag fast Jahr um Jahr mit zunehmender
Dringlichkeit und immer größerer Mehrheit den Wunsch nach Reichstags-
diäten wiederholt hat. Durch die Reichsverfassung (Art. 5, 69) sind die
Verbündeten Regierungen auf ein einträchtiges Zusammenwirken mit dem
Reichstage angewiesen. Im Hinblick auf realpolitische Machtverhältnisse
wollten die Regierungen in einer Frage, der nach den gewonnenen Erfahrungen
eine fundamentale Bedeutung für das Verfassungsleben des Reichs nicht
mehr zugesprochen werden konnte, gegenüber dem stetigen Drängen des
Reichstags ohne die schwerwiegendsten Gründe nicht auf die Dauer einen
gegenteiligen Standpunkt einnehmen, und solche schwerwiegenden Gründe
lagen nicht mehr vor oder ihre Bedeutung war wenigstens erheblich ver-
mindert. Die Diätenlofigkeit war ausgesprochenermaßen — pdgl. die oben
angeführte Erklärung des Fürsten Bismarck v. 29. März 1867 — als
Aquivalent für das allgemeine, direkte und geheime Wahlrecht gedacht.
Man kann nach den politischen Erfahrungen von 40 Jahren annehmen,
daß die frühere Bestimmung des Art. 32 diese Funktion nicht erfüllt hat.
Der Mangel an Diäten hat gerade bei den radikalen politischen Parteien die
Auswahl der Abgeordneten nicht beschränkt und wohl keinen Wahlkandidaten
dieser Richtung an dem Einzug in den Reichstag verhindert. Man kann
dasselbe nicht von den Kandidaten der gemäßigten politischen Parteien
sagen. Da also die Einführung der Diäten für die radikale Wirkung des
allgemeinen Wahlrechts nichts mehr bedeutete, so fehlte es an einem inneren
Zusammenhange zwischen der Diätenbewilligung und einer Reform des all.
gemeinen Wahlrechts, und es war daher politisch nur konsequent, daß mit
der Diätenbewilligung eine solche Reform nicht verbunden wurde. Die
Anforderungen, welche die Diätenlofigkeit an die finanzielle Unabhängigkeit
der Abgeordneten stellte, wirkte im Sinne einer Beschränkung des für die
Wahlkandidatur an sich zur Verfügung stehenden Personenkreises nur gegen-
über den Abgeordneten der politischen Parteien gemäßigter Richtung. Was
insbesondere die Abgeordneten betrifft, die durch größeren Besitz für eine
staatserhaltende Politik disponiert sind und an deren Ubergewicht im Reichs-
tage bei der ursprünglichen Stellung der Regierungen zur Diätenfrage
wohl in erster Reihe gedacht war, so bringen sie wirtschaftliche Opfer nicht
sowohl durch die baren Auslagen, die ihnen der mehrmonatliche Aufenthalt
in Berlin verursacht, als dadurch, daß sie während des gleichen Zeitraums
ihren eigenen Geschäften in der Heimat entzogen sind. Hierfür wird ein
Ersatz jetzt so wenig wie früher gewährt. Sieht man aber von dieser
sozialen Schicht der Abgeordneten ab, so ist in Betracht zu ziehen, daß,
wie die Verhältnisse in Deutschland einmal liegen, zwischen Besitz einerseits
und Charakter, Bildung und den sonstigen für die Funktion eines Abge-
ordneten zu wünschenden Eigenschaften andererseits nicht eine solche Relativität