Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

Charakter 
der englischen 
Politit. 
1092 Mebersicht ũber die politische Entmiclung des JZahres 1914. 
Entspannung ihre ersten Früchte zu zeitigen verhieß, glaubte man 
als hoffnungsvolle Anzeichen für ein dauerndes Einvernehmen der 
beiden bisher sich mißtrauisch gegenüberstehenden Großmächte und 
als eine verläßliche Bürgschaft für den Weltfrieden werten zu dürfen, 
zumal es auf englischer Seite auch sonst nicht an versöhnlichen 
Stimmen fehlte. Es sei nur an die pazifistische Kundgebung des Schatz- 
kanzlers Lloyd George erinnert, der Englands Beziehungen zu Deutsch- 
land als „unendlich freundlicher" als seit Jahren bezeichnete (S. 516). 
Auf Grund der bitteren Erfahrungen der Folgezeit sind wir 
heute nur allzu geneigt, in diesem Entgegenkommen Englands 
lediglich Bluff und Spekulation auf deutsche Vertrauensseligkeit zu 
erblicken. Eine nüchterne Nachprüfung der feststehenden geschichtlichen 
Tatsachen führt aber zu dem Ergebnis, daß noch an jenem Zeit- 
punkte Englands Stellung auch zu den Mächten, mit denen es jetzt 
der gemeinsame Vernichtungswille gegen das Deutschtum verbindet, 
einen eigenartig schillernden, durch zögernde Zurückhaltung und 
bereitwillige Hingabe gleich sehr gekennzeichneten Charakter getragen 
hat. Man mag diese auch in den diplomatischen Verhandlungen 
vor Kriegsausbruch immer wieder zutage tretende britische Zwie- 
spältigkeit mit den Traditionen der britischen Politik, mit der be- 
sonderen Wesensart des leitenden Staatssekretärs des Auswärtigen, 
mit den unleugbar vorhandenen Parteiungen innerhalb des Kabi- 
netts, mit der notwendigen Rücksichtnahme auf die öffentliche Meinung 
oder sonstwie erklären, man wird die Tatsache selbst als ein eigen- 
tümliches Merkmal der politischen Lage in den Monaten vor Kriegs- 
beginn zugeben müssen. Englands politisches Ziel seit den Tagen 
König Eduards VII. war die Aufrichtung einer Pax britannica, die 
die uneingeschränkte britische Seeherrschaft zur unbestrittenen Vor- 
aussetzung haben sollte, und die den anderen Staaten, mochten sie 
Englands Verbündete oder Gegner sein, nur soviel Macht beließ. 
daß sie diese Suprematie nicht in Frage stellen konnten, sondern. 
durch die Wirkung des Gesetzes von dem Gleichgewicht der Kräfte 
gegenseitig in Schach gehalten, als gottgewollte Notwendigkeit hin- 
nehmen mußten. Dieses Ziel, das die deutsche Gefahr für England 
neutralisieren und ihm zugleich ohne großes Risiko die entscheidende 
Mittlerrolle in allen Fragen der großen Politik sichern sollte, hatte
	        
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