476 V. Reichstag. Art. 32.
besteht, daß nicht die Auswahl der Abgeordneten in einer dem Grund-
gedanken der Reichsverfassung zuwiderlaufenden Weise beeinträchtigt werden
würde, wenn eine ziemlich weitgehende finanzielle Unabhängigkeit stets die
Voraussetzung für die Wahl sein müßte.
Ferner hat bei der Einführung der Diätenlofigkeit im konst. Reichstage
die Erwägung eine Rolle gespielt, daß die Gewährung von Diäten die
Tagungen des Reichstags verlängern und in Verbindung mit dem dem
Wahlrecht innewohnenden Radikalismus ein Berufs-Parlamentariertum
schaffen könnte, das, wenn es überwiege, die nationale Bedeutung des Reichs-
tags und seinen Beruf als Volksvertretung ungünstig beeinflussen würde;
die Gefahren und Schattenseiten des Berufs-Parlamentariertums wurden ins-
besondere vom preuß. Staatsminister Graf zu Eulenburg in der Reichstags-
sitzung v. 15. April 1867 St. B. 708 und vom Fürsten Bismarck in der
Reichstagssitzung v. 19. April 1871 St. B. 297 dargestellt. Auch nach dieser
Richtung hat die Diätenlofigkeit die in fie gesetzte Erwartung nicht erfüllt.
Denn die Tagungen des Reichstags find unter der Geltung des früheren.
Art. 32 immer länger geworden und darin liegt natürlich für die Aus-
bildung des Berufs-Parlamentariertums ein prädisponierendes Moment. Die
Ausdehnung der Tagungen ist nämlich zu einem erheblichen Teile auf die
damals oft eintretende Beschlußunfähigkeit des Reichstags zurückzuführen,
wenngleich auch andere Gründe für die Verlängerung der Sitzungsperioden
bestehen, besonders die zunehmende Länge der Debatten und einzelnen Reden,
der Andrang von neuen Gesetzentwürfen, Resolutionen und Petitionen und die
sich daraus ergebende Überlastung des Reichstags, die qualitativ und quanti-
tativ auf die Verhandlungen einwirkt. Der Absentismus der Reichstags-
mitglieder aber hing neben anderen, noch jetzt bestehenden Momenten, wie
der stets wachsenden Inanspruchnahme der im bffentlichen Leben stehenden
Personen durch politische, kommunale und fachmännische Korporationen, durch
Vereine und Versammlungen, nicht unwesentlich mit der Diätenlofigkeit zu-
sammen, und der im Hinblick auf Vorgänge des Auslands an sich denkbaren
Möglichkeit, daß Diäten, wenn fie auch dem Absentismus entgegenwirken,
bei einzelnen Abgeordneten die Neigung zu einer Ausdehnung der Verhand-
lungen begünstigen könnten, ist durch die Eigenart der nach dem Gesetz von
1906 gewährten Entschädigung entgegengewirkt worden, die aus einer
Pauschalentschädigung mit Abzügen für die Tage der Abwesenheit besteht.
II. Die Entschädigung der Reichstagsmitglieder.
Das Ges. v. 21. Mai 1906 R.G.Bl. S. 468 bestimmt, daß die Reichs-
tagsmitglieder für die Dauer der Sitzungsperiode sowie acht Tage vor deren
Beginn, und acht Tage nach deren Schluß freie Fahrt auf den deutschen
Eisenbahnen sowie eine jährliche Aufwandsentschädigung von insgesamt
3000 K+ erhalten, die in den durch das Gesetz § 1 näher festgestellten Raten
und Terminen zu zahlen ist. Für jeden Tag, an dem ein Mitglied des
Reichstags der Plenarsitzung ferngeblieben ist, wird von der nächstfälligen
Entschädigungsrate ein Betrag von 20 + in Abzug gebracht (8 2). Die
Anwesenheit in der Plenarsitzung wird dadurch nachgewiesen, daß das Mit-
glied des Reichstags sich während der Dauer der Sitzung in einer An-
wesenheitsliste einträgt. Wer an einer namentlichen Abstimmung nicht
teilnimmt, gilt im Sinne des Gesetzes als abwesend, auch wenn er sich in