Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

42 II. Reichsgesetzgebung. Art. 2. 
Für die dem Reich zugewiesenen Gebiete der Gesetzgebung ist zu unter- 
scheiden, ob die Gesetzgebungsbefugnis des Reichs ausschließlicher Natur ist 
oder nicht. Die erstere Alternative ist nach dem vorstehenden allgemeinen 
Gesichtspunkt nicht zu vermuten, sondern sie ist nur gegeben, wenn es in 
der Reichsverfassung oder einem die Reichsverfassung abändernden Reichs- 
gesetz ausdrücklich bestmmt ist. Bei ausschließlicher Gesetzgebungsbefugnis 
ist die Gesetzgebung der Einzelstaaten für das betreffende Gebiet völlig aus- 
geschaltet (ebenso: Laband II S. 110 f. und Meyer S. 611). Sind dagegen 
die Voraussetzungen der Ausschließlichkeit nicht gegeben (vgl. oben 1 3), 
wie es bei den meisten der in Art. 4 R.V. aufgezählten Materien der Fall 
ist, so ist die Gesetzgebung des Reichs nur fakultativ und der Erlaß neuer 
Landesgesetze auch für die Zeit nach der Gründung des Reichs keineswegs 
ausgeschlossen. Wenn aber das Reich von seiner Gesetzgebungsbefugnis 
Gebrauch macht, gehen seine Gesetze den Landesgesetzen vor. Dies ist aus- 
drücklich anerkannt im Schlußprotokoll zum Vertrage mit Bayern Ziffer VI 
R.G. Bl. 187 S. 24: 
„Als unbestritten wurde von dem Königl. preußischen Bevollmächtigten 
zugegeben, daß selbst bezüglich der der Bundes-Legislative zugewiesenen 
Gegenstände die in den einzelnen Staaten geltenden Gesetze und Ver- 
ordnungen in so lange in Kraft bleiben und auf dem bisherigen Wege 
der Einzelgesetzgebung abgeändert werden können, bis eine bindende Norm 
vom Bunde ausgegangen ist.“ 
Wird das Reichsgesetz erlassen, so tritt das Landesgesetz ipso jure außer 
Kraft. Es bedarf also hierzu weder einer besonderen Bestimmung des 
neuen Reichsgesetzes noch einer ausdrücklichen landesgesetzlichen Anordnung. 
Diese das Landesrecht aufhebende Kraft wohnt aber nur positiven reichs- 
gesetzlichen Bestimmungen inne. Es ist eine der Reichsverfassung nicht 
entsprechende Uberspannung des dem Art. 2 zugrunde liegenden Rechts- 
gedankens, wenn — wie es in der Reichstagssitzung vom 11. Juni 1900 
St. B. 5970 ff. geschah — für die der Reichsgesetzgebung an sich unterliegenden 
Materien ein Verbot einer neuen landesgesetzlichen Regelung schon dann 
angenommen wurde, wenn die gesetzgebenden Faktoren sich nur mit Projekten 
einer reichsgesetzlichen Regelung beschäftigt haben, ohne daß diese Projekte 
zur vollendeten Tat geworden sind. Denn ein Gesetzentwurf, der nicht 
Gesetz wird, ist rechtlich bedeutungslos und deshalb in keiner Weise geeignet, 
die Kompetenz der Landesgesetzgebung einzuschränken, ohne Rücksicht darauf, 
welche Erklärungen bei der Beratung des Entwurfs von Mitgliedern des 
einen oder anderen gesetzgebenden Faktors, des Bundesrats oder Reichstags 
abgegeben worden find und ohne Rücksicht darauf, wie die Ablehnung des 
Entwurfs seitens der einen Körperschaft von dem anderen Faktor der Gesetz- 
gebung aufgenommen worden ist. Erklärungen, die aus dieser Veranlassung 
abgegeben worden sind, mögen sie von noch so autoritativer Stelle her- 
rühren und deshalb von unzweifelhafter politischer Bedeutung sein, haben 
nie die Kraft, die nach der klaren Vorschrift des Art. 2 R.V. nur dem 
vollendeten und gehörig verkündeten Reichsgesetz zugeschrieben ist. Es handelte 
sich damals um die Gültigkeit einer vom Senat von Lübeck zum Schutze 
Arbeitswilliger für Fälle eines Streiks erlassenen Verordnung. Ihre 
Gültigkeit wurde unter Hinweis darauf bestritten, daß sie derselben Tendenz 
diene wie der vom Reichstag kurze Zeit vorher abgelehnte Entwurf eines
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.