Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

II. Reichsgesetzgebung. Art. 2. 43 
Gesetzes zum Schutze des gewerblichen Arbeitsverhältnisses. Das Reichs- 
gericht (III. Strff. Urt. v. 4. Febr. 1901 Bd. 84 S. 121) hatte später Ver- 
anlassung, die Frage der Gültigkeit der Verordnung des Lübecker Senats zu 
prüfen und hat die Gültigkeit allerdings verneint, aber nicht aus dem im 
Reichstag erörterten Grunde, sondern weil angenommen wurde, daß die 
Verordnung mit der Gewerbeordnung im Widerspruch stand. Im übrigen 
aber hat das Reichsgericht den im Reichstag eingenommenen Standpunkt 
ebenfalls abgelehnt und ausgesprochen, daß aus der Tatsache, daß ein 
beabsichtiges Reichsgesetz nicht zustande komme, sich keine Folgerung auf 
den bestehenden Rechtszustand ziehen lasse. 
Während also dem nicht zur Tat gewordenen Willen der gesetzgebenden 
Faktoren keine Bedeutung für die Einschränkung der landesgesetzlichen Kom- 
petenz zukommt, verhindert umgekehrt die Reichsverfassung nicht, daß ein 
Reichsgesetz, das auf dem der Reichsgesetzgebung zugewiesenen Gebiete ergeht, 
weitgehende Vorbehalte zugunsten der Landesgesetzgebung auf demselben Gebiet 
macht. So ist durch das zur Abänderung des Art. 4 Ziff. 13 R.V. erlassene 
Reichsgesetz v. 20. Dez. 1873 R.G.Bl. S. 379 dem Reich die gemeinsame 
Gesetzgebung über das gesamte bürgerliche Recht zugewiesen. Aber das 
Bürgerliche Gesetzbuch hat durch Art. 55 ff. des E.G. umfangreiche Materien 
des bürgerlichen Rechts der Landesgesetzgebung überlassen und im Art. 3 
des E.G. neue landesgesetzliche Vorschriften für diese Gebiete ausdrücklich 
gestattet. Ebenso wäre es nicht unzulässig, daß ein Reichsgesetz der Landes- 
gesetzgebung die Befugnis einräumt, für einzelne Fälle oder für territorial 
bestimmte Gebiete Dispensationen vom Reichsrecht eintreten zu lassen. Ohne 
eine reichsgesetzliche Unterlage aber kann natürlich das Landesrecht vom 
Reichsrecht nicht dispensieren — vgl. Zorn 1 S. 425 — und überhaupt in 
keiner Weise das Reichsrecht abändern, so daß insofern der Satz „lex poste- 
rior derogat priori" nicht gilt. 
Auf die von den Einzelstaaten geschlossenen Staatsverträge, soweit sie 
das reichsgesetzlich geregelte Gebiet berühren, üben die Reichsgesetze dieselbe 
Wirkung aus wie auf die Landesgesetze, d. h. diese Staatsverträge müssen, 
soweit sie mit einem Reichsgesetz im Widerspruch stehen, ipso iure außer 
Kraft treten. Für das bürgerliche Recht ist eine Ausnahme durch Art. 56 
des E.G. z. B.G.B. zugelassen. Abgesehen von den in dieses Gebiet fallenden 
Verträgen können deshalb die Einzelstaaten für diejenigen Materien, auf 
welche die Reichsgesetzgebung unmittelbar einwirken darf, bindende Ver- 
pflichtungen nur unter dem Vorbehalt des Eingriffes eines den Staats- 
vertrag abändernden Reichsgesetzes eingehen. Daraus ergibt sich allerdings 
die Folge, daß z. B. Vorschriften des ausländischen Rechts, deren Anwendung 
durch einen Staatsvertrag garantiert ist, mittels eines Reichsgesetzes für 
das Inland außer Kraft gesetzt werden können; vgl. Art. 11 C II. 
Der für die Landesgesetzgebung bestehen gebliebene Wirkungskreis hat 
ferner durch die staatsrechtliche Praxis eine besondere Einschränkung für das 
Steuerwesen erfahren. Abgesehen von den der Reichsgesetzgebung zugewie- 
senen, im Art. 35 benannten indirekten Steuern steht die Steuergesetzgebung 
den Einzelstaaten zu (soweit letztere ihre Befugnis nicht etwa Kommunal= 
bezirken, Kreisen und Gemeinden übertragen haben). Es ist aber durch die 
Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts, Entsch, v. 26. Jan. 1892 und 
v. S8. Juni 1901, Bd. 22 S. 117 und Bd. 39 S. 91, anerkannt und ent-
	        
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