Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

44 II. Reichsgesetzgebung. Art. 2. 
spricht dem von den obersten Reichsbehörden von jeher eingenommenen 
Standpunkt, daß das Reich der Steuergesetzgebung der Einzelstaaten min- 
destens insofern nicht unterliegt, als der Besteuerung die Voraussetzung 
zugrunde liegt, daß der zu Besteuernde dem die Steuergewalt ausübenden 
Machtfaktor unterworfen ist, wie dies z. B. für die Einkommen= und Ver- 
mögenssteuer der Fall ist. Anders könnte die Frage bei Gebühren — denen 
eine Gegenleistung zugrunde liegt — und vielleicht auch bei indirekten Ab- 
gaben (Verbrauchssteuern, Oktrois) beurteilt werden, und natürlich besteht 
keine Steuerfreiheit für das Reich in Ansehung derjenigen Steuern, denen 
sich das Reich freiwillig unterwirft, z. B. der in Preußen erhobenen, den 
Kommunen zur Einziehung überwiesenen Grund= und Gebäudesteuer; vl. 
Arndt S. 434 f. (Meyer 8§ 226 A. 11 S. 827, Laband IV S. 434 f. und 
v. Seydel S. 384 erkennen für den Reichsfiskus Steuerfreiheit nur so weit 
an, als fie dem Landesfiskus zusteht.) Feststeht in der Praxis ferner, daß der 
Reichsfiskus von den Kommunen nicht zu irgendeiner direkten Steuer — Ein- 
kommen= oder Gewerbesteuer — aus seinen mit einem Einkommen oder einer 
gewerbeähnlichen Wirtschaftsführung verbundenen Betriebseinrichtungen (Poft, 
Eisenbahnen, Kanäle) herangezogen werden kann; vgl. die Erklärungen des 
Fürsten Bismarck im Jahre 1874 nach Rofin Grundzüge S. 98. In einigen 
Fällen hat das Reich aus Billigkeitsrücksichten an Kommunen freiwillig als 
Ersatz für die Einkommen= oder Gewerbesteuer Beihilfen geleistet, wenn die 
Kommunallasten durch die Ansiedlung von Arbeitern der Betriebsanlagen des 
Reichsfiskus wesentlich erhöht wurden. Nach einer Außerung des Staats- 
sekretärs des Innern Graf v. Posadowsky-Wehner (Reichstagssitzung v. 
1. Mai 1907 St. B. 1283 C) wird beabsichtigt, diese Frage im Wege der 
Reichsgesetzgebung zu regeln; eine ähnliche Erklärung gab der Unterstaats- 
sekretär im Reichsschatzamt Twele in der Reichstagssitzung v. 7. Mai 1907 
St. B. 1479 A ab; vgl. auch das Reichsgesetz über die Rechtsverhältnisse 
der zum dienstlichen Gebrauch einer Reichsverwaltung bestimmten Gegen- 
stände v. 25. Mai 1873 R. G. Bl. S. 113 § 1 Abs. 2. 
3. Die Wirkung der Reichsverordnungen auf das Landesrecht. 
Das Reichsrecht anerkennt ebenso wie das Staatsrecht der Einzelstaaten 
die Zulässigkeit von Verordnungen, die von den Gesetzen sich dadurch unter- 
scheiden, daß sie nicht aus übereinstimmenden Mehrheitsbeschlüssen des 
Bundesrats und Reichstags hervorgehen und daß eine Mitwirkung des 
Reichstags überhaupt nur in seltenen Ausnahmefällen und dann nur in 
der Form stattsindet, daß der Reichstag die Verordnung im ganzen geneh- 
migen oder ablehnen kann. 
Auch auf Reichsverordnungen bezieht sich der 1. Satz des Art. 2, denn 
es handelt sich hier um die Abgrenzung der Kompetenz zwischen Reich und 
Einzelstaaten (vgl. 1 1). Diese Auslegung ist eine politische Notwendigkeit. 
Die Reichsverordnungen würden ihren Zweck verlieren, wenn sie von 
einzelnen Bundesstaaten durch landesgesetzliche Vorschriften einseitig auf- 
gehoben werden könnten, und die Einheitlichkeit des Reichsrechts würde 
zerstört werden. Soll das Reichsrecht überhaupt Bedeutung haben, so muß 
es in allen seinen Formen, mag es als Gesetz oder als Verordnung 
erscheinen, dem Landesrecht vorgehen. Dies ist in der Literatur wie 
vom Reichsgericht anerkannt — vgl. Laband II S. 105, Meyer S. 612,
	        
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