VII. Eisenbahnwesen. Art. 45. 537
I. Die durch Art. 45 für das Reich begründeten Befugnisse.
Art. 45 betrifft die Betriebsreglements, denen jetzt die Verkehrsordnung
entspricht, und die Tarife. Die Verkehrsordnung regelt die geschäftlichen
Bedingungen, unter denen die Eisenbahnverwaltung die Beförderung von
Personen und Gütern übernimmt, abgesehen von dem in dem Tarif zum
Ausdruck kommenden Entgelt. Tarife und Verkehrsordnung stehen also im
inneren Zusammenhang. Sie bilden zusammen den ein für alle Male,
d. h. für alle gleichartigen Fälle normierten Inhalt der von der Eisenbahn-
verwaltung abzuschließenden Beförderungsverträge, und Art. 45 schließt sich
mithin organisch an die den technischen Teil des Bahnwesens regelnden
Bestimmungen der Art. 43, 44 an, wobei Art. 44 mit seinem auf Be-
schleunigung des Verkehrs und möglichst umfangreiche Leistungsfähigkeit der
Bahnen abzielenden Inhalt schon zu dem rein wirtschaftliche Fragen, näm-
lich die Einheit der Wirtschaftspolitik des Eisenbahnwesens betreffenden
Art. 45 überleitet. Dabei ist ein wesentlicher Unterschied festzustellen.
Während die anderen Bestimmungen, wie in der Praxis anerkannt ist,
dem Reich Zwangsbefugnisse gewähren, gilt dasselbe nicht vom Art. 45, der
nur ein Einwirkungsrecht für das Reich vorfieht. Dies ergibt sich klar
aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung; vgl. die Ausführungen der
Abg. Michaelis und Miquel und namentlich die Erwiderung des Präsidenten
Delbrück in der Sitzung des konst. Reichstags v. 1. April 1867 St.B. 507,
ferner den Bericht der Petitionskommission v. 25. Mai 1872 Anl. Bd. 3
S. 462 ff. Nr. 100 und St. B. v. 1872 S. 853 f. Die dort St. B. 858 vom
Präsidenten Delbrück ausgesprochene Ansicht, daß, wenn auch nicht der
Reichskanzler, sodoch der Bundesrat in Tariffragen eine entscheidende Instanz
bilde, ist nicht wörtlich zu verstehen. Mindestens de iure ist der Bundes-
rat nicht die entscheidende Instanz. Er ist es vielleicht de facto; zumal
wenn er mit den größeren Eisenbahnverwaltungen einig ist, werden sich die
widerstrebenden kleineren Verwaltungen nicht leicht seinem tatsächlichen Ein-
fluß entziehen können; vgl. die Ausführungen des Bundeskommissars bei
der Beratung eines i. J. 1868 von den Abg. Harkort und Becker gestellten
Antrages auf baldige Einführung des Einpfennig-Tarifs und die Verhand-
lungen von 1874/75 S. 11, 19 ff. Uberall ist dort anerkannt, daß ein
Zwang seitens des Reichs in Fragen der Tarifpolitik ausgeschlossen ist.
Das Reich hat das Recht von den Tarifen Kenntnis zu nehmen, und wenn
die Organe des Reichs die Überzeugung gewinnen, daß die Tarifpolitik der
Bahnverwaltungen sich von der durch Art. 45 vorgezeichneten Linie entfernt,
so ist es ihre Pflicht, ihren tatsächlichen Einfluß dahin wirken zu lassen,
daß die Tarifpolitik wieder das Programm des Art. 45 annimmt. Auch
würde eine solche Einwirkung geboten sein, wenn die Bahnverwaltungen
ungleichmäßige Tarife einführeu mit der Tendenz die Zollpolitik des
Reichs dadurch zu durchkreuzen, daß sie für die vom Ausland eingeführten
oder nach dem Ausland ausgeführten Produkte bis zur Grenze Differential-
tarife zulassen, die wie Zollermäßigungen oder Exportprämien wirken; vgl.
die Ausführungen des Ministers Maybach in den Sitzungen des preuß.
Abgeordnetenhauses v. 8. u. 11. Nov. 1879, v. Poschinger Aktenstücke 1 S. 298.
Aber vorschreiben darf das Reich in dieser Beziehung den Einzelstaaten und
deren Bahnverwaltungen nichts, abgesehen von dem Ausnahmefall der