II. Reichsgesetzgebung. Art. 2. 47
tag ausgeübt wird und die Übereinstimmung der Mehrheitsbeschlüfse beider
Versammlungen zu einem Reichsgesetz erforderlich und ausreichend find,
stehen sich, was ihren Wortlaut anbetrifft, diametral gegenüber. Es ist
auch nicht anzunehmen, daß die Absicht vorgelegen hat, einen Unterschied
festzustellen zwischen der tatsächlichen Existenz eines Reichsgesetzes, die schon
durch die Erfüllung der im Art. 5 bezeichneten Bedingungen gegeben ist,
und seiner Gültigkeit nach außen, die erst durch die Verkündigung geschaffen
wird. Dem Wortlaut der Reichsverfassung würde eine solche Unterscheidung
nicht zuwiderlaufen, aber für die Frage des kaiserlichen Vetos ergibt sich
keine Lösung daraus. Denn wenn der Kaiser die Gesetze zu verkündigen
verpflichtet ist, wenn also dem nach Art. 5 zustande gekommenen Reichs-
gesetz die Verkündigung auf dem Fuße folgen muß, so ist die Unterscheidung
zwischen der Existenz des Reichsgesetzes und seiner Geltung gegenüber den
Untertanen ohne praktische Bedeutung; wenn aber der Kaiser das Gesetz zu
verkünden nicht verpflichtet ist, so ist es ohne Wert, daß das Gesetz im
Verhältnis zwischen Bundesrat und Reichstag gemäß Art. 5 als zustande
gekommen gilt. Die Lösung dürfte entsprechend der in der Literatur viel-
fach vertretenen Ansicht darin zu finden sein, daß ein Veto des Kaisers
zwar gegenüber einem nach Art. 5 R.V. zustande gekommenen Reichsgesetz
als durch den Wortlaut des Art. 5 ausgeschlossen angesehen werden muß
(wie bei Art. 5 A 2 näher ausgeführt ist), daß aber nach Art. 2, 17 das
Gesetz nach außen nicht eher gilt, als es verkündet ist und daß die staats-
rechtliche Pflicht des Kaisers zur Verkündigung sich nur auf solche Gesetze
erstreckt, die nach der Reichsverfassung, insbesondere nach Art. 5 rechtmäßig
zustande gekommen find, so daß der Pflicht zur Verkündigung der nach Art. 5
zustande gekommenen Reichsgesetze das Recht des Kaisers entspricht — dessen
Ausübung natürlich keine mera facultas ist —, zu prüfen, ob die Gesetze
auf dem vorgeschriebenen Wege zustande gekommen sind. Daß der Kaiser
kein Vetorecht hat, wird u. a. von Laband II S. 38, v. Rönne II, 1 S. 49
und 1 S. 230, v. Seydel S. 44, Zorn 1 S. 415, Arndt S. 183, Meyer
S. 585 angenommen. Lehnt der Kaiser gleichwohl die Verkündigung ab, so
ist ein Konfliktsfall geschaffen, mit dem die Verfassungsurkunde nicht gerechnet
hat und für den sie keinen Ausweg enthält. Denn ohne die Verkündigung
gilt das Reichsgesetz nicht, mag sie mit Recht oder Unrecht abgelehnt sein,
und kein Reichsorgan kann den Kaiser bei der Verkündigung ersetzen. Es
besteht also für den Kaiser nach der Verfassung die Möglichkeit, das Inkraft-
treten eines Reichsgesetzes durch Ablehnung der Verkündigung tatsächlich zu
hindern; vgl. Art. 16 II.
Sieht man von diesem rein tatsächlichen Verhältnis ab, so bleibt als
Inhalt des kaiserlichen Verkündigungsrechts nur die Befugnis übrig, zu
prüfen, ob das zu verkündende Reichsgesetz verfassungsgemäß zustande ge-
kommen ist — ebenso Laband lI S. 38, Arndt S. 184. Aus dem Wort-
laut der Reichsverfassung wird sich diese Befugnis des Kaisers allerdings
nicht anders herleiten lassen, als daß man den Satz: „Die Reichsgesetze
erhalten ihre verbindliche Kraft“ usw. dahin auslegt, daß es dem Kaiser
obliegt, ehe er ein Reichsgesetz als solches verkündet, zu prüfen, ob die
fragliche Urkunde überhaupt ein Reichsgesetz im Sinne der Verfassung ent-
hält, d. h. ob die für das Zustandekommen eines Reichsgesetzes durch die
Verfassung erforderten Bedingungen im einzelnen Falle sämtlich gegeben