Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

48 II. Reichsgesetzgebung. Art. 2. 
find. Bezüglich dieser Bedingungen ist wiederum zu unterscheiden zwischen 
den Vorschriften, die nur den inneren Geschäftsgang des Bundesrats und 
Reichstags betreffen und deshalb in den Geschäftsordnungen der beiden 
gesetzgebenden Faktoren niedergelegt sind, und denjenigen Vorschriften, welche 
die Reichsverfassung selbst enthält; die Beobachtung dieser letzteren Kategorie 
auch gegenüber dem Bundesrat und Reichstag zu vertreten ist das Recht 
des Kaisers, das er ausübt, ehe er an das Werk der Verkündigung geht. 
Für beide gesetzgebenden Faktoren, Bundesrat und Reichstag, stellt also 
die Beobachtung ihrer Geschäftsordnung eine innere Angelegenheit dar — 
ebenso z. B. Laband, D. Jur. Zeit. 1903 S. 10 und Arndt S. 184. Diese 
Ansicht hat eine Bestätigung durch die Reichsverwaltung gefunden bei den 
Reichstagsverhandlungen über den Antrag v. Kardorff v. 27. Nov. 1902, 
der bezweckte, daß der von den Verbündeten Regierungen vorgelegte Zolltarif 
in 2. Lesung nicht mehr nach seinen einzelnen Positionen durchberaten, 
sondern daß die Beschlüsse der 16. Kommission des Reichstags mit einigen 
Abänderungen in Bausch und Bogen angenommen werden sollten. Der 
Antrag wurde angenommen, während eine Minderheit des Reichstags ihn 
für geschäftsordnungswidrig erklärte, und ein Abgeordneter (Sitzung v. 
28. Nov. 1902 St. B. 6685 CD) die Erwartung aussprach, „daß der Reichs- 
kanzler den Entschluß nicht fassen werde, nachdem solche Bedenken im Reichs- 
tage vorgetragen seien, dem Kaiser zu empfehlen, das Gesetz zu vollziehen“. 
Als Vertreter des Reichskanzlers erklärte darauf der Staatssekretär des 
Innern, Graf v. Posadowsky-Wehner in der Sitzung v. 3. Dez. 1902 
St. B. 6881 D, daß „die Regierung es entschieden ablehne, sich in die 
inneren Angelegenheiten der Ordnung der Geschäfte des hohen Hauses 
einzumischen“" — und der Reichskanzler Fürst Bülow bestätigte diese Auf- 
fasfung in der Sitzung v. 13. Dez. 1902 St. B. 7164 dahin, daß er durch 
eine Berücksichtigung der von der Minderheit des Reichstags mit Bezug 
auf die Geschäftsordnung erhobenen Bedenken sich in einen Widerspruch 
mit der Reichsverfassung gesetzt haben würde. 
Dagegen gilt dasselbe nicht bezüglich der Beobachtung der Vorschriften 
der Reichsverfassung. Deshalb übernimmt der Reichskanzler durch die 
Gegenzeichnung der Ausfertigung der Gesetzesurkunde und des Verkündigungs- 
befehls gemäß Art. 17 R.V. die Verantwortung dafür, daß das Gesetz auf 
dem durch die Reichsverfassung vorgeschriebenen Wege — abgesehen von 
den Vorschriften der Geschäftsordnung des Bundesrats und Reichstags — 
zustande gekommen ist, daß also z. B. zwischen den Beschlüssen der beiden 
gesetzgebenden Körperschaften volle Übereinstimmung herrscht, daß ferner 
die in diesen Beschlüssen zum Ausdruck gekommene Erklärung dem kund- 
gegebenen Willen der beiden Körperschaften entspricht, daß sich nicht Re- 
daktionsfehler eingeschlichen haben, die den Sinn des Gesetzes verändern 
und daß die verfassungsmäßigen Widerspruchsrechte von Minderheiten des 
Bundesrats gemäß Art. 5 Abs. 2, Art. 37 und 78 R.V. gewahrt find. 
Der anscheinende Widerspruch zwischen Art. 5 einerseits und Art. 2, 17 
andererseits löst sich also dahin: Die Übereinstimmung der Mehrheits- 
beschlüsse des Bundesrats und Reichstags ist an sich zu einem Reichsgesetz 
erforderlich und ausreichend. Ob aber diese Voraussetzungen für das Zu- 
standekommen des Reichsgesetzes gegeben fsind und bei der Entstehung des 
Gesetzes überhaupt der durch die Verfassung vorgeschriebene Weg innegehalten
	        
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