Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

628 XII. Reichsfinanzen. Art. 69. 
Reichsverwaltung ist gebunden, von der ihr durch das Notgesetz erteilten 
Ermächtigung insoweit keinen Gebrauch zu machen, als bei den einzelnen 
Kapiteln und Titeln die Ansätze des neuen Etatsjahres hinter denen des 
abgelaufenen Jahres zurückbleiben. Sie erhält also eine Ausgabenbewilligung, 
die sich auf die einzelnen Kapitel und Titel erstreckt, zunächst überhaupt 
nicht, weil der verflossene Etat mit dem neuen nicht identisch zu sein braucht 
und weil nur die Ansätze des neuen Etats den Gegenstand der Ausgaben- 
bewilligung bilden. Die Reichsverwaltung wird nur ermächtigt, in Höhe 
des Gesamtbetrages für die in den einzelnen Kapiteln und Titeln bezeich- 
neten Verwendungszwecke Ausgaben zu leisten, ist aber — vorbehaltlich der 
Möglichkeit, Indemnität zu erlangen — dafür verantwortlich, daß zu den 
einzelnen Kapiteln und Titeln nicht mehr verausgabt wird, als auf Grund 
des neuen Etats bewilligt wird; vgl. die Ausführungen des Unterstaats- 
sekretärs im Reichsschatzamt Twele in der Reichstagssitzung v. 20. März 1907 
St. B. 638 C. Um eine Ermächtigung der Reichsverwaltung handelt es sich 
stets nur, auch wenn der Etat endgültig festgesetzt wird; denn der Reichs- 
verwaltung die Verpflichtung zur Ausgabe aufzuerlegen, wäre widerfinnig, 
weil aus Gründen, die bei der Feststellung des Etats nicht vorausgesehen 
werden konnten, die Veranlassung zur Verausgabung der bewilligten Summe 
nachträglich fortfallen kann. Aber was die durch das Notgesetz gegebene 
Situation der Finanzverwaltung des Reichs kennzeichnet, ist der Umstand, 
daß auch die Ermächtigung nur bedingt ist, bedingt dadurch, daß die ein- 
zelnen Positionen später endgültig bewilligt, werden, und zwar ist die Be- 
dingung resolutiver Natur, d. h. der Reichsverwaltung wird es zunächst 
ermöglicht, auf der Grundlage eines Budgets die Verwaltung fortzuführen. 
Ihre Verantwortung erstreckt sich nach allgemeinen Grundsätzen nur auf 
ein durch Vorsatz oder Fahrlässigkeit herbeigeführtes Verschulden, und ein 
solches Verschulden würde nur dann zu konstruieren sein, wenn die Reichs- 
verwaltung auf Grund des Notgesetzes Ausgaben machen würde, deren Nicht- 
bewilligung bei der endgültigen Feststellung des Etats vorausgesetzt werden. 
kann. In Ansehung der einmaligen Ausgaben, z. B. der Kosten für Neu- 
bauten ist die Rechtslage derart, daß der Reichsverwaltung nichts verboten 
und nichts erlaubt ist. Sie ist also darauf angewiesen, auf eigene Gefahr 
zu handeln, und verfährt dabei in der Weise, daß sie unter Zugrunde- 
legung des neuen Etats über diejenigen Bausummen verfügt, die bereits 
in 2. Lesung bewilligt find, da das Risiko, daß solche Summen bei der 
endgültigen Feststellung des Etats — in der 3. Lesung — abgelehnt werden 
könnten, sehr gering ist; vgl. die Ausführungen des Staatssekretärs des Reichs- 
schatzamts Frhr. v. Stengel in der Reichstagssitzung v. 18. März 1904 St. B. 
1922. 
VII. Die konstitutionelle Bedeutung des Etatsgesetzes. 
Ohne den Willen der Volksvertretung kann im Reich keine erhebliche 
Ausgabe geleistet werden. Das Reich muß aber Ausgaben und zwar in 
ungeheuerer Masse aufwenden, sonst müßte das öffentliche Leben stillstehen 
und es wäre auch ein Fortgang des privaten Verkehrs nicht denkbar, da 
das Reich durch seine Anstalten — Post, Eisenbahnen, soweit sie vom Reich 
betrieben werden — an dem wirtschaftlichen Leben derart beteiligt ist, daß 
die Konsequenzen einer Suspension seiner Mitwirkung nicht zu ermessen 
find, es würde auf die Dauer auch die Sicherheit des Reichs und seiner
	        
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