XII. Reichsfinanzen. Art. 69. 631
Rede und Laband IV S. 491ff. bemerkt mit Recht, daß die zeitliche Begren-
zung der Bewilligung auf ein Jahr allein den Gegenstand der Anordnung
des Art. 71 bildet. Aber Art. 71 ist so gefaßt, wie wenn die Bewilligung
der Ausgaben schon früher ausgesprochen wäre. Tatsächlich ist dies nicht
der Fall. Es ist möglich, daß mit Rücksicht auf Art. 69 es nicht für er-
forderlich gehalten worden ist, die Notwendigkeit der Bewilligung besonders
zum Ausdruck zu bringen. Jedoch kann nach dem Wortlaut des Art. 71
nichts anderes angenommen werden, als daß dort die Notwendigkeit der
Bewilligung der Ausgaben, wenn nicht ausdrücklich bestimmt, so doch vor-
ausgesetzt ist. «
Die Bewilligung der Ausgaben erfordert neben der Feststellung des
Etats keinen besonderen Staatsakt, sondern geschieht dadurch, daß die Aus-
gaben mit Zustimmung des Reichstags in den Etat aufgenommen werden.
Formell bezieht sich das Bewilligungsrecht des Reichstags auf sämtliche
Ausgaben, weil ohne seine Genehmigung gemäß Art. 69 keine Ausgabe auf
den Etat gebracht werden kann. Aber der Reichstag würde rechts= und ver-
fassungswidrig handeln, falls er im Widerspruch zu dem klaren Sinn, wenn-
gleich zu keiner positiven Bestimmung der Verfassung, von dieser Befugnis
den Gebrauch machen wollte, Ausgaben zu verweigern, die zur Ausführung
der bestehenden Gesetzgebung notwendig find. Die Frage, welches diese
Ausgaben sind, wird nach allgemeinen Grundsätzen kaum zu beantworten
sein. Die Friedenspräsenz z. B. ist für die Armee gesetzlich festgelegt, die
Zahl der Offiziere dagegen durch das Reichs-Militärgesetz nur in gewissem
Grade, die Zahl der Militärbeamten, Arzte, Unteroffiziere usw. nicht. Die
Ausgaben, die für den einzelnen Mann zu leisten sind, an Natural= und
Geldverpflegung, Bekleidung, Bewaffnung und sonstiger Ausrüstung, die
Ausgaben für die Artillerie, für Festungsbauten usw. hängen nur von Er-
wägungen der Zweckmäßigkeit ab. Für die Marine ist die Zahl der Schiffe,
nach Linienschiffen, großen und kleinen Kreuzern gesondert, festgelegt, ebenso
die Zeitdauer der Indienststellung und die Verwendung der Besatzungs-
stämme; die Zahl der kleineren Schiffe — Torpedoboote und der Spezial-
schiffe — dagegen nicht, ebensowenig die Gesamtzahl der Schiffsmannschaft,
auch nicht die Kopfstärke der Besatzung für das einzelne Schiff und nicht
die Baukosten des einzelnen Schiffes. Die Existenz des Reichsgerichts z. B.
ist durch die Reichsjustizgesetze festgelegt, die Zahl der Mitglieder eines
Senats auch, aber nicht die Zahl der Senate. Eine praktische Lösung würde
deshalb durch die Unterscheidung in gesetzlich notwendige und nicht not-
wendige Ausgaben nicht gewonnen werden, und da ohne die Genehmigung
des Reichstags keine Ausgabe, welcher Art sie auch sei, auf den Etat gebracht
werden kann, ist die ganze Unterscheidung fast gegenstandslos. Kommt aber
der Etat nicht zustande, so ist die Reichsverwaltung genötigt, die durch
zwingende Gründe der Zweckmäßigkeit gebotenen Ausgaben nicht weniger
zu leisten als diejenigen, die auf positive Vorschriften der Reichsgesetzgebung
zurückgeführt werden können.
Die Frage, ob Etatspositionen vom Reichstag einseitig erhöht werden
dürfen, wird von den Verbündeten Regierungen verneint, vom Reichstag
mindestens zum Teil bejaht. Es führte z. B. der Staatssekretär des Reichs-
schatzamts Frhr. v. Thielmann unter Berufung auf Erklärungen seines Amts-
vorgängers, des Grafen Posadowsky-Wehner aus den Jahren 1895 und 1897