634 XII. Reichsfinanzen. Art. 69.
den Erträgen der Zölle und der neu eingeführten Tabakssteuer der 130 Mil-
lionen übersteigende Jahresertrag den Einzelstaaten überwiesen wurde, damit
das Reich im Defizit und auf Matrikularbeiträge oder neue Einnahme-
quellen angewiesen blieb. Auch bei den Finanzreformen von 1906 und 1909
wurde dieser Grundgedanke der Frankensteinschen Klausel aufrecht erhalten;
die Üüberweisungen wurden zwar eingeschränkt, aber nicht in dem Maße,
daß das Reich mit seinen eigenen Einnahmen auskommen könnte. Es ist
nicht zu verkennen, daß auch ohne ein förmliches Einnahmenbewilligungsrecht
sich aus diesem Verhältnis ein wirksamer Druck auf die finanziellen Bedürf-
nisse der Reichsverwaltung ergibt. Die konstitutionelle Bedeutung der
Matrikularbeiträge liegt einmal in diesem Moment und ferner darin, daß
im Hinblick auf das der Erhebung hoher Matrikularbeiträge zuwiderlaufende
Interesse der Einzelstaaten das Reich genötigt ist, von dieser finanziellen
Reserve nur einen bescheidenen Gebrauch zu machen und im Wege der
Gesetzgebung neue Einnahmequellen zu suchen und daß es natürlich nicht
ausgeschlossen ist, daß der Reichstag seine Zustimmung zu solchen gesetz-
geberischen Aktionen von Konzessionen abhängig macht; vgl auch Laband IV
S. 492 ff. Etatsrechtlich ist aber nach dieser Richtung nichts anderes vor-
geschrieben, als daß alle Einnahmen des Reichs in den Etat eingestellt
werden müssen, der insofern für den Reichstag nur die Bedeutung einer
übersicht hat und daß die Matrikularbeiträge nur auf Grund des Etats-
gesetzes ausgeschrieben werden können.
X. Abweichungen vom Etat.
Der Etat stellt einen Voranschlag für zukünftige Einnahmen und Aus-
gaben dar. Nur zum Teil stehen die Einnahmen und Ausgaben durch
Gesetz oder Verträge fest. In ihrer Mehrzahl beruhen sie auf einer Schätzung,
die sich teils auf die Erfahrungen früherer Jahre, teils — soweit solche
Erfahrungen noch nicht gewonnen sind — auf Rückschlüsse aus irgendwelchen
anderen Erfahrungstatsachen stützt. Die Unberechenbarkeit, die oft diesen
Schätzungen selbst bei normalen wirtschaftlichen Verhältnissen innewohnt,
und der Einfluß von wirtschaftlichen Konjunkturen bringt es mit sich, daß
die Voranschläge nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Dies führt zu
Mehr= oder Mindereinnahmen, Mehrausgaben oder Ausgabeersparnissen.
Die Mehr- und Mindereinnahmen, sowie die Ausgabeersparnisse sind einfach
Tatsachen, von denen der Bundesrat und Reichstag bei der Abrechnung
lediglich Kenntnis nehmen. Bedeutungsvoll vom konstitutionellen Stand-
punkt sind nur die Mehrausgaben. Sie zerfallen in Etatsüberschreitungen
und in außeretatsmäßige Ausgaben. Erstere sind gegeben, wenn für einen
im Etat verzeichneten Ausgabetitel die in Anschlag gebrachte Summe nicht
ausgereicht hat, während man unter außeretatsmäßigen Ausgaben Auf-
wendungen für einen im Etat überhaupt nicht vorgesehenen Zweck versteht;
vgl. wegen der Unterscheidung beider Kategorien Anl. der 10. Leg.-Per. Seff. 2
Bd. 8 S. 6385 Nr. 958. Für beide Kategorien wird die nachträgliche
Genehmigung des Reichstags eingeholt, auch dann wenn von einem Ver-
schulden der Reichsverwaltung nicht die Rede sein kann. Für die Rechts-
gültigkeit der mit dritten Personen für das Reich abgeschlossenen Verträge
ist es gleichgültig, ob die vom Reich zu leistende Zahlung im Etat vor-
gesehen ist oder eine Etatsüberschreitung oder außeretatsmäßige Ausgabe