XII. Reichsfinanzen. Art. 70. 645
Einzelstaaten überlafsen bleibt, die auf fie entfallende Quote zusammen mit
ihren anderen Ausgaben in ihrem Landesetat unter möglichster Berücksichtigung
der verschiedenen Leistungsfähigkeit der einzelnen sozialen Klassen ihres Staats-
gebiets durch eine diesem Zwecke dienende Steuerpolitik zu verteilen. Denn
dadurch wird der Übelstand nicht beseitigt, daß das bestehende System der
Matrikularbeiträge der Verschiedenartigkeit der Leistungsfähigkeit nicht Rech-
nung trägt, welche die Einzelstaaten in ihrer Totalität aufweisen. Das
System ist unter diesem Gesichtspunkt von Anfang an angefochten worden;
vgl. die Ausführungen des Abg. Migquel in der Sitzung des konst. Reichstags
v. 9. März 1867 St. B. 114, ferner Fürst Bismarck, der stets ein Gegner
der Matrikularbeiträge war und sie nur als provisorische Einrichtung gelten
lassen wollte, in einem vertraulichen Erlaß v. 18. Okt 1867; Fürst Bismarck
erklärte schon damals, „daß die Deckung der Bundesausgaben durch Bundes-
steuern bis zu voller Beseitigung der regelmäßigen Matrikularumlagen das
zu erstrebende Ziel der norddeutschen Bundespolitik sein müsse“; vgl.
v. Poschinger Aktenstücke I S. 119, ferner Fürst Bismarck in dem vor-
erwähnten Schreiben an den Finanzminister Camphausen v. 13. Febr. 1877,
sowie in der Reichstagssitzung v. 22. Nov. 1875 St.B. 249 und v. 9. Juli
1879 St. B. 2180. Seidem die Überweisungen bestehen, kann, wie Fürst
Bismarck in der letztgenannten Sitzung St. B. 2194 hervorgehoben hat, diese
Kritik nur noch auf die ungedeckten Matrikularbeiträge bezogen werden,
weil darin, daß die überweisungen nach demselben Maßstabe verteilt werden,
ein Korrektiv für die ungleichmäßige Belastung durch die Matrikularbeiträge
liegt. Was die in der Kritik ebenfalls öfters hervorgehobene Ungleich-
mäßigkeit ihres Umfangs betrifft, die nicht vorauszusehen ist und den Einzel-
staaten die Aufstellung des Budgets allerdings sehr erschwert, so war nach
§ 3 des Ges. v. 3. Juni 1906 R. G. Bl. S. 621 durch die Stundung des
über den Normalbetrag von 40 F für den Kopf der Bevölkerung hinaus-
gehenden überschusses bis zum dritten Jahre eine erhebliche Erleichterung
gewährt; der Umfang der finanziellen Last wurde dadurch nicht geringer, aber
das Moment des Nichtvorhergesehenen, das früher namentlich die weniger
leistungsfähigen Einzelstaaten bei den ungedeckten Matrikularbeiträgen gerade
in den Jahren, in denen die Staatseinnahmen auch bei den Einzelstaaten
zurückgingen, hart betroffen hat, war dadurch ausgeschaltet. Durch die
Finanzreform von 1909 ist dieser Vorteil wieder verloren gegangen, und
bestehen bleibt auch nach wie vorher der Nachteil der Ungleichmäßigkeit der
Verteilung zwischen den einzelnen Staaten. Diese Ungleichmäßigkeit ist
nicht so leicht zu beseitigen. Es ist eine sogen. „Veredelung“ vorgeschlagen
worden nach der Richtung, daß die Verteilung nach dem Maßstabe der
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit stattfinden solle. Aber die Frage, wie die
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu ermitteln sei, bleibt offen. Ob die
Statistik, welche die Erbschaftssteuer liefern kann, nachdem sie längere Zeit
in Kraft gewesen ist, hierzu ausreichen wird, ist zweifelhaft. Auch müßte
bei einer Reform von demselben Standpunkt finanzieller Gerechtigkeit in
Betracht gezogen werden, in welchem Verhältnis die bereits von den Einzel-
staaten erhobenen direkten Steuern zu dem Grad von Wohlhabenheit stehen,
den ihre Bevölkerung erreicht hat; vgl. die Denkschrift zur Finanzreform
von 1909 Drucks. der 12. Leg.-Per. Nr. 992 S. 26. Ferner ist zu berück-
sichtigen, daß die Überweisungen jetzt nach demselben Maßstabe verteilt