646 XII. Reichsfinanzen. Art. 70.
werden. Würde die Verteilung der Matrikularbeiträge in dem erstrebten Sinne
geändert, so könnte dasselbe System unmöglich für die Verteilung der Uber-
weisungen angewendet werden, weil sonst die leistungsfähigsten Staaten die
größten Beträge bei den Überweisungen erhielten; vgl. die Erklärung des
Staatssekretärs des Reichsschatzamts Frhr. v. Stengel in der Reichstags-
fitzung v. 9. Dez. 1903 St.B. 19 und in der Reichstagskommission für den
Reichshaushaltsetat nach dem Bericht v. 5. Mai 1904 Anlagen der 11. Leg.-
Per. Sess. 1 Bd. 3 S. 2335 sowie in der Reichstagssitzung v. 3. Dez. 1907
St. B. 2017 A. Würden aber die Uberweisungen nach dem Maßstabe der
Leistungsfähigkeit im entgegengesetzten Sinne wie die Matrikularbeiträge
verteilt werden, so wäre zwar die Belastung der Einzelstaaten nach der Skala
ihrer Leistungsfähigkeit wirkungsvoll abgestuft, aber es würde geradezu dar-
auf hinauslaufen, daß die wirtschaftlich schwächeren Staaten von den wirt-
schaftlich stärkeren alimentiert würden und dies wäre ein Eingriff in die
naturgemäße Freiheit der wirtschaftlichen Entwicklung, der schon bei den
Individuen innerhalb des Staates nicht bedenkenfrei, von einem selbständigen
Staatswesen gegen das andere gerichtet aber ein doppelt bedenkliches Novum
wäre. Staatsrechtlich würden übrigens diejenigen Einzelstaaten, die durch
einen solchen Verteilungsmodus benachteiligt wären, unter dem Gesichtspunkt
des Art. 78 Abs. 2 R.V. eine derartige Anderung der Verfassung nicht
abweisen können. Denn da die bisher geltende Verteilung der Matrikular-
beiträge nach einem für alle Einzelstaaten geltenden einheitlichen Gesichts-
punkt stattgefunden hat, so wäre der Schluß nicht gerechtfertigt, daß durch
das geltende System bestimmte Rechte einzelner Bundesstaaten in deren
Verhältnis zur Gesamtheit im Sinne des Art. 78 Abs. 2 R.V. festgestellt
sind; es würden also nach Art. 78 Abs. 1 zur Ablehnung 14 Stimmen im
Bundesrat erforderlich sein; vgl. Laband 1 S. 104 f. Die beste Reform wäre
es, wenn das Reich, dessen eigene Einnahmequellen, namentlich die indirekten
Steuern, sehr ergiebig sein könnten, finanziell so selbständig wäre, daß ungedeckte
Matrikularbeiträge überhaupt nicht erhoben zu werden brauchten. Nur
daran, d. h. an die wirtschaftliche Beseitigung der Matrikularbeiträge, hat
Fürst Bismarck gedacht, nicht an ihre „Veredelung“; vgl. die Reichstagsrede
v. 22. Nov. 1875 St. B. 249, wo der Neuschaffung von indirekten Reichs-
steuern im Gegensatz zu den Matrikularbeiträgen als einer der Befestigung
des Reichs dienenden Vermehrung der gemeinsamen Einrichtungen gedacht
ist. Zu berücksichtigen ist auch, daß mindestens ein erheblicher Teil der
indirekten Reichssteuern, z. B. Stempelabgaben, Erbschaftssteuer überwiegend
von den besitzenden Klassen getragen werden und daß darin mittelbar eine
höhere Belastung der leistungsfähigeren Staaten liegt; vgl. die Erklärung
des Staatssekretärs des Reichsschatzamts Frhr. v. Stengel in der Reichstags-
sitzung v. 6. Dez. 1905 St. B. 132 A.
Bei dem bestehenden System der Verteilung ist nach einem Bundes-
ratsbeschluß v. 28. März 1882, durch den ein bereits i. J. 1874 unter
Billigung des Reichstags gefaßter Beschluß erneuert wurde, für die definitive
Verteilung der Matrikularbeiträge und für die definitive Verteilung der
Überweisungen die Kopfzahl der ortsanwesenden Bevölkerung — ohne Rücksicht
auf die Staatsangehörigkeit — maßgebend; vgl. Laband IV S. 479. Hierin
liegt nur eine Ausführungsvorschrift zum Art. 70, da dort über die Fest-
stellung der Bevölkerungsziffer nichts bestimmt ist.