652 XII. Reichsfinanzen. Art. 70.
1904 St. B. 2750. Gerade diese Stempelabgaben aber gehören zu den
Steuern, deren Erträge je nach der wirtschaftlichen Konjunktur bedeutenden
Schwankungen unterliegen, sodaß ein unsicheres Element in den Budgets
der Einzelstaaten belassen war; vgl. die Erklärung des Staatssekretärs des
Reichsschatzamts Frhr. v. Stengel in der Reichstagssitzung v. 7. Mai 1904
St. B. 2750, 2760 A. Die Verwendung der Branntweinsteuer (Verbrauchs-
abgabe) als überweisungssteuer beruht übrigens schon seit dem Beitritt der
Süddeutschen Staaten zur Branntweinsteuergemeinschaft, d. h. seit d. J. 1887
auf einem den Süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg und Baden
speziell eingeräumten Recht, das ohne deren Zustimmung nicht aufgehoben
werden kann (Art. 1 8 5 des Ges. betr. Anderungen im Finanzwesen v. 15. Juli
1909 R.G.Bl. S. 744). Hierin liegt eine finanzielle Begünstigung dieser
Staaten, da sie infolge der Uberweisung den auf das ganze Reich berechneten
Durchschnitt der Steuer erzielen, während Produktion und Konsum in
Norddeutschland erheblich größer sind als in Süddeutschland. Bei der Erb-
schaftssteuer handelt es sich dagegen nicht um eine Uberweisung, sondern
es werden nur 3¾ des Ertrages an das Reich abgeführt und jeder Einzel-
staat behält von der durch ihn erhobenen Erbschaftssteuer eine Dividende
von 25 % zurück, gewissermaßen als teilweise Entschädigung für die Ent-
ziehung dieser sich mit seiner eigenen Steuersphäre nahe berührenden Finanz-
quelle, die in den Budgets der Einzelstaaten bereits eine mehr oder weniger
erhebliche Rolle spielte; im Hinblick auf diesen Gesichtspunkt war es auch
nicht am Platze, die Steuer voll zur Reichskasse einzahlen zu lassen und
den Einzelstaaten 25 % zu überweisen, denn dadurch wären die Staaten
geschädigt worden, die nach der wirtschaftlichen Lage ihrer Bevölkerung
imstande sind, aus der Erbschaftssteuer einen Ertrag zu ziehen, der den für
das ganze Reich gezogenen Durchschnitt übersteigt. Die Herabsetzung dieser
Dividende von 33½ auf 25% war übrigens bei der Finanzreform von
1909 von den Verbündeten Regierungen nur vorgeschlagen worden, weil
nach der bei dieser Finanzreform in Aussicht genommenen Ausgestaltung
der Erbschaftssteuer von ihr ein viel höherer Ertrag erwartet werden konnte.
Mit der Ablehnung der Reform der Erbschaftssteuer hätte eigentlich auch
die Frage der Herabsetzung des Anteils der Einzelstaaten an dieser Steuer
als erledigt angesehen werden müssen, denn der Grund für die Herabsetzung
war weggefallen.
Wenn man der Ansicht folgt, daß die konstitutionelle Bedeutung der
Überweisungen mehr auf einer Suggestion als auf Tatsachen beruht, so
hat die uberweisungsfrage praktische Bedeutung nur noch für den Fall,
daß sich Überschüsse über die Matrikularbeiträge ergeben; ist dies nicht der
Fall, so muß alles, was unter dem Titel „Überweisung“ den Einzelstaaten
gegeben wird, unter dem Titel „Matrikularbeitrag“ wieder zurückgefordert
werden. Sind aber überschüsse vorhanden, so ist es natürlich vom Stand-
punkt der Finanzwirtschaft wie von dem der allgemeinen Wirtschaftspolitik
nicht gleichgültig, ob die Überschüsse im Reich oder in den Einzelstaaten
verbraucht werden. Man kann vielleicht im allgemeinen den Standpunkt
verteidigen, daß wenn nach Befriedigung aller staatsnotwendigen Aufgaben
überschüsse unterzubringen sind, unter den Aufgaben, die den Einzelstaaten
vorbehalten sind — Volksbildung, innere Verwaltung, Pflege von Kunst
und Wissenschaft, Gesundheitspflege, Ausbau der Verkehrswege zu Lande und