XII. Reichsfinanzen. Art. 70. 653
zu Wasser — sich für die Verwendung von überschüfsen ein weiteres Feld
bietet, während andererseits den Einzelstaaten, weil ihnen die ergiebigsten
Einnahmegquellen durch die Reichsgesetzgebung entzogen sind, eine auf die
Erzielung von bedeutenden Mehreinnahmen berechnete Finanzwirtschaft kaum
noch möglich ist. Für absehbare Zeit handelt es sich aber auch noch nicht
um die Unterbringung von Uberschüssen. Das Reich hat seine Finanz-
wirtschaft in hohem Grade auf Anleihen gestützt, und wenn nicht die
späteren Generationen in unverhältnismäßig großem Umfange mit Ausgaben
belastet werden sollen, deren Verwendung der gegenwärtigen und der bereits
verflossenen Zeit zugute gekommen ist, so dürfte nichts anderes übrig bleiben,
als daß das Reich, das seit der Finanzreform von 1909 zu wesentlich
höheren Einnahmen aus den ihm nach der Verfassung zustehenden indirekten
Steuerquellen gekommen ist, seine Finanzwirtschaft so einrichtet, daß die
Einnahmen der Gegenwart die Ausgaben der Gegenwart decken; das Über-
weisungssystem ist jetzt soweit eingeschränkt, daß daraus dem Reich kein
Hindernis entsteht, die Schuldendeckung, nötigenfalls unter noch stärkerem
Gebrauch seiner Steuerquellen, in der Weise wie es nach dem Ges. v. 15. Juli
1909 83 R. G. Bl. S. 744 in Aussicht genommen ist, wirklich durchzuführen.
V. Die Erstattung der ungedeckten Matrikularbeiträge
an die Einzelstaaten.
In dem dritten Satze des Art. 70, wo das Wort „Überweisungen“
zum ersten und einzigen Male gebraucht ist, hat die Einrichtung der über-
weisungen, die in der Finanzwirtschaft des Reichs eine so große Rolle spielt,
ihre verfassungsmäßige Anerkennung gefunden; vgl. die Erklärung des Staats-
sekretärs des Reichsschatzamts Frhr. v. Stengel in der Reichstagssitzung
v. 9. Dez. 1903 St. B. 19 und die Außerungen der Abg. Sattler und Speck
v. 7. Mai 1904 St. B. 2763 C und 27660D. Allerdings ist im Sinne des
Art. 78 Abs. 1 verfassungsmäßig nicht mehr festgestellt als Art. 70 bestimmt,
daß nämlich, „soweit die Matrikularbeiträge in den Uberweisungen keine
Deckung finden, sie den Bundesstaaten am Jahresschluß in dem Maße zu
erstatten sind, als die übrigen ordentlichen Einnahmen des Reichs dessen
Bedarf übersteigen.“ Mit dieser Bestimmung ist aus dem verfassungs-
mäßigen Grundsatz der Subsidiarität der Matrikularbeiträge eine im Hinblick
auf die finanziellen Interessen der Einzelstaaten notwendige Konsequenz
gezogen. Wenn es schon dem geltenden Recht entspricht, daß das Reich
ungeachtet dessen, daß es sich im Besitz der ergiebigsten Steuerquellen befindet,
von den Einzelstaaten alimentiert wird, so sollen wenigstens die Einzelstaaten
nicht schon dann in Mitleidenschaft gezogen werden, wenn effektiv ein Defizit
nach Verbrauch der eigenen Einnahmen des Reichs nicht übrig bleibt, sondern
sich nur rechnerisch als Folge einer zu vorsichtigen Aufstellung des Etats
ergibt. Denn damit ist der Grundsatz des Art. 70, daß die Einzelstaaten
das Defizit des Reichs tragen, unberührt gelassen; in der Bestimmung des
dritten Satzes liegt nur eine Korrektur gegenüber einem nicht im Sinne der
Verfassung liegenden Ergebnis, das aus der objektiv unrichtigen Schätzung
des Etats hervorgeht; die Einzelstaaten erhalten Ersatz für ihre Matrikular-
beiträge vom Reich nur dann und nur in den Grenzen, als bei einem richtigen,
mit dem tatsächlichen Ergebnis übereinstimmenden Voranschlag der Ein-