Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

660 XII. Reichsfinanzen. Art. 72. 
Reichstags v. 13. April 1894 St. B. 2080, 2083 wird dem Reichstag von 
diesen Ordres dadurch Kenntnis gegeben, daß den Haushaltsübersichten eine 
summarische Nachweisung über die in dem betreffenden Etatsjahre ergange- 
nen, finanziell bedeutsamen Allerh. Erlasse beigefügt wird. Eine sachliche 
Rechtfertigung der Ordres kann der Reichstag nicht verlangen, mag man 
sie als Gnadenakte ansehen, als welche sie sich formell darstellen, oder als 
einfache Verwaltungsakte, deren Charakter sie materiell haben. In jedem 
Falle hängt die Entscheidung nur von Erwägungen der Billigkeit und 
Zweckmäßigkeit ab und solche Staatsgeschäfte sind nach allgemeinen kon- 
stitutionellen Grundsätzen der Nachprüfung des Reichstags entzogen. Er 
kann vielmehr die Entlastung nur verweigern, wenn die Verwaltungsakte 
sich nicht mehr auf gesetzlichem Boden oder in ihrer finanziellen Tragweite 
nicht mehr innerhalb des Etats bewegen; vgl. St. B. des Reichstags Anl. 
der 9. Leg.-Per. Sess. 4 Bd. 3 S. 1856 ff. Nr. 382 und oben Art. 17 IVd 
S. 351 ff. Für die den preußischen Etat betreffenden justifizierenden Kabinetts- 
ordres ist die Vorlegung der Übersicht an den Landtag übrigens jetzt durch 
§ 18 des preuß. Ges. v. 11. Mai 1898 vorgeschrieben. Die weitere, an 
derselben Stelle gegebene Vorschrift, daß das Recht zum Erlaß von justi- 
fizierenden Kabinettsordres vom König nicht mehr allgemein, sondern 
nur noch im einzelnen Falle dem betreffenden Verwaltungschef delegiert 
werden kann, ist für das Reichsrecht, auch wenn man die analoge An- 
wendung für zulässig halten wollte, gegenstandslos, weil im Reiche und 
im Gebiet der preußischen Militärverwaltung der Kaiser, bez. König das 
Recht von jeher persönlich ausgeübt hatte; vgl. Arndt in der D. Jur. Zeit. 
1900 S. 350, Joöl in Hirth's Annalen 1888 S. 805 ff. 
In Ansehung der Verwaltung der für das Reich erhobenen Zölle und 
Steuern sowie sonstigen Abgaben erstreckt sich die Verantwortlichkeit des 
Reichskanzlers nur darauf, daß die Einzelstaaten den vollen Betrag der 
für Rechnung des Reichs erhobenen Einnahmen dem Reiche gutbringen. 
Wenn für Defekte und sonstige Pflichtverletzungen der Beamten Regreß- 
ansprüche durch justifizierende Kabinettsordres des Landesherrn nieder- 
geschlagen werden, so ist dies eine innere Angelegenheit des betreffenden 
Einzelstaates, die weder sachlich noch finanziell die Interessen des Reichs 
berührt; vgl. Laband IV S. 530. 
Der Begriff der Etatsüberschreitungen und außeretatsmäßigen Aus- 
gaben ist für das Reich wie für Preußen durch § 19 des Ges. v. 27. März 
1872 bestimmt; val. Art. 69 X S. 634f. Danach sind als Etatsüber- 
schreitungen mit Recht nur die Mehrausgaben bezeichnet, da weder das 
Reich noch Preußen ein Einnahmebewilligungsrecht kennt; für das Reich 
wird dabei von den Matrikularbeiträgen abgesehen, bei denen Einnahme- 
überschreitungen praktisch ausgeschlossen sind. Der Begriff der Etatsüber- 
schreitung ist nach § 19 a. a. O. an den „Titel eines Spezialetats“ ge- 
knüpft und unter einem solchen ist im Sinne des Gesetzes zu verstehen 
„jede Pofition, die einer selbständigen Beschlußfafsung der Landesvertretung 
unterlegen hat und als Gegenstand einer solchen im Etat erkennbar ge- 
worden ist“. Die Spezialisierung des Etats ist danach für die Bindung 
wie für die Entlastung der Verwaltung von großer Bedeutung. Wie weit 
die Spezialisierung gehen soll, ist eine Frage der Zweckmäßigkeit und durch 
gesetzliche Bestimmungen nicht vorgeschrieben.
	        
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