Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

672 XIII. Schlichtung von Streitigkeiten u. Strafbestimmungen. Art. 76. 
Austrägalinstanz gedacht sei: in dem gleichen Sinne hat sich übrigens auch 
der Staatssekretär des Innern Graf v. Posadowsky-Wehner aus Anlaß des 
Lippeschen Thronfolgestreits in der Reichstagssitzung v. 17. Jan. 1899 
St. B. 246 geäußert; er erklärte, niemand habe im entferntesten daran gedacht, 
daß der Bundesrat selbst mit seinem verfassungsmäßigen Stimmenverhältnis 
die Entscheidung übernehmen würde; übereinstimmend u. a. v. Seydel S. 405 f., 
v. Rönne 1 S. 218, Arndt S. 111, v. Jagemann S. 218. Dagegen vertritt 
Laband 1 S. 246 die Ansicht, daß ein vom Bundesrat mit der Fällung des 
Urteils betrautes Schiedsgericht keine eigene Kompetenz besitze, sondern nur 
ein sachverständiges Gutachten erstatte, das erst durch die Bestätigung seitens 
des Bundesrats bindende Kraft und rechtliche Bedeutung erlange. Dieser 
Ansicht kann nicht beigestimmt werden. Daß der Bundesrat Rechtsgutachten 
einzuholen die Befugnis hat, ist selbstverständlich; wenn nur dies hätte 
zum Ausdruck gebracht werden sollen, so wären die angeführten Erklärungen 
der Regierungsvertreter bei Emanation der Verfassung überflüssig und 
nichtssagend gewesen. Richtig ist allerdings, daß eine ausdrücckliche Dele- 
gationsbefugnis für den Bundesrat in Ansehung der nach Art. 76 zu 
treffenden Entscheidungen nicht vorgesehen ist. Aber diese Befugnis ist den 
höchsten Organen der Staatsgewalt immanent, wenn fsie nicht durch ein 
pofitives, die alleinige Kompetenz des betreffenden Organs vorschreibendes 
Gesetz ausgeschlossen ist. Für den hier vertretenen Standpunkt sprechen auch 
überwiegende Gründe der Zweckmäßigkeit. Wenngleich es sich bei den in 
Betracht kommenden Streitigkeiten meistens um politische Fragen handeln 
wird und bei der Entscheidung über politische Fragen politische Gesichts- 
punkte nicht abzuweisen sind, so stehen doch in der Regel wohl die Re- 
gierungen der Einzelstaaten oder wenigstens ein Teil von ihnen den 
Angelegenheiten, die zu einer erheblichen Meinungsverschiedenheit in ihrer 
Mitte führen, zu nah, als daß es nicht erwünscht wäre einem besonderen 
Kollegium die Entscheidung zu übertragen. Auch ist, namentlich wenn 
größere Staaten an dem Streit beteiligt sind — deren Stimmen doch dann 
natürlich nicht mitzählen dürften — nicht abzusehen, ob unter dem übrig- 
bleibenden Rest der Staaten die Stimmenzahl sich nicht in einer den tat- 
sächlichen Machtverhältnissen durchaus widersprechenden Weise verschiebt. 
Endlich dürfte, da es sich um eine Entscheidung handelt, welche die 
Wirkung einer gerichtlichen haben soll, es mehr im Interesse der Sache 
liegen, wenn die Regierungen in die Lage versetzt werden, die Verant- 
wortung für die absolute Objektivität der Entscheidung einem Kollegium 
überlassen zu können, das wenigstens für diesen einen Fall von ihnen 
unabhängig gestellt ist. 
Nähere Bestimmungen über das Verfahren, das der Bundesrat im 
Falle des Art. 76 einschlägt, fehlen, wenigstens sind fie nicht veröffentlicht. 
Laband 1 S. 247 bemerkt mit Recht, daß es sich aus praktischen Gründen 
empfehlen würde, diejenigen Vorschriften zur Anwendung zu bringen, die 
z. Z. des Deutschen Bundes für das Bundes-Austrägalverfahren bestanden 
haben. 
Die Entscheidung, die auf Grund des Art. 76 gefällt wird, ist end- 
gültig und die Regierungen der Einzelstaaten müssen sich ihr fügen. Denn 
ohne eine solche Zwangsgewalt des Bundesrats könnte von einer Erledigung 
nicht die Rede sein.
	        
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