XIII. Schlichtung von Streitigkeiten u. Strafbestimmungen. Art. 76. 673
III. Die Erledigung von Verfassungsstreitigkeiten.
a) Der Begriff des Verfassungsstreits.
Eine Erläuterung des Begriffs des Verfassungsstreits findet sich weder
in der Reichsverfassung noch in der sonstigen Reichsgesetzgebung. Doch ist
anzunehmen, daß unter Verfassungsstreit im Sinne des Art. 76 Abs. 2 nur
zu verstehen ist ein Streit zwischen Regierung und Volksvertretung über
die Auslegung oder die Rechtmäßigkeit der Verfassung; vgl. u. a. Laband I
S. 248, v. Seydel S. 407, Zorn I S. 172, Arndt S. 112, v. Rönne I S. 220 ff.,
v. Jagemann S. 218. Der Begriff ist also nach zwei Richtungen zu be-
grenzen, einmal in Ansehung ber Organe, die berechtigt sind einen solchen
Streit zu erheben — nämlich Regierung und Volksvertretung — und
bezüglich des materiellen Gegenstands des Streits: es darf sich dabei nur
um die Auslegung oder die Rechtmäßigkeit der Verfassung handeln, und
der Natur der Sache gemäß können für ein so eingreifendes, folgenschweres
Verfahren, durch das der Streit aus dem eigenen Hause zu einer anderen
Macht getragen wird, nur grundlegende Bestimmungen der Verfassung in
Betracht kommen, deren verschiedene Auffassung geeignet ist, das unentbehrliche
Zusammenwirken zwischen Regierung und Volksvertretung in Frage zu
stellen. Ein Beispiel gibt der von v. Rönne I S. 220 A. 1 angeführte
Bundesbeschluß v. 30. Okt. 1834. Wollte man auch Meinungsverschieden-
heiten über einzelne Ausführungsbestimmungen der Verfassung einbeziehen,
so könnte schließlich das ganze Gebiet der Landesgesetzgebung Gegenstand
eines Verfassungsstreits sein. Nicht vom Art. 76 wird der Fall betroffen,
daß eine Anderung der Verfassung von der Volksvertretung begehrt, von
der Regierung aber abgelehnt wird. Denn ein Streit über Einrichtungen,
die erst de lege ferenda getroffen werden sollen, ist nur politischer Natur
und läßt sich unter rechtlichen Gesichtspunkten überhaupt nicht entscheiden.
Es würde nichts anderes als eine Mediatifierung der Bundesstaaten auf
einem Gebiet bedeuten, wo ihre Staatshoheit ungeschmälert erhalten ist,
wenn es zulässig wäre, daß durch eine Entscheidung der gesetzgebenden
Faktoren des Reichs in den Einzelstaaten neue Verfassungseinrichtungen
eingeführt würden, mögen auch aus politischen Gründen die von der einen
oder anderen Seite — Regierung oder Volksvertretung — begehrten neuen
Einrichtungen noch so wünschenswert sein. Diesen Standpunkt hat der
Bundesrat insbesondere in der mecklenburgischen Verfassungsfrage, in der
er wiederholt um Intervention ersucht worden ist, von jeher eingenommen;
vgl. v. Rönne 1 S. 221. Ferner hat in derselben Frage der Bundesrat die
Ansicht vertreten, daß einzelne Privatpersonen oder Korporationen einen
Verfassungsstreit nicht erheben könnten, sondern nur Regierung und Volks-
vertretung; vgl. die Reichstagsverhandlungen v. 12. Mai 1869 St. B. II
S. 940 ff. und den von Laband ! S. 247 A. 5 mitgeteilten Beschluß des
Bundesrats im Protokoll von 1874 § 94, wonach die Befugnis zur Er-
hebung eines Verfassungsstreits insbesondere dem Magistrat einer Stadt-
gemeinde nicht zuerkannt wurde; den gleichen Standpunkt hat in der Reichs-
tagsfitzung v. 24. Jan. 1905 St. B. 4001 der Staatssekretär des Innern
Graf v. Posadowsky-Wehner vertreten.
Damitsch, Deutsche Reichsverfassung. 43