676 XIII. Schlichtung von Streitigkeiten u. Strafbestimmungen. Art. 76.
IV. Thronfolgestreitigkeiten.
Es liegen Präzedenzfälle vor, daß der Bundesrat zu Thronfolge-
streitigkeiten der Einzelstaaten Stellung genommen hat; dies ist sowohl beie
der Thronfolge von Braunschweig wie bei der von Lippe-Detmold geschehen,
und nach der ganzen Struktur des Reichs kann eine solche für die Existenz
des Staats unter Umständen fundamentale Frage nicht mehr als eine innere
Angelegenheit des betreffenden Bundesstaats aufgefaßt werden. Es bleibt
nur fraglich, ob und auf welche positive Bestimmung der Reichsverfassung
die Beteiligung des Bundesrats gestützt werden kann. Mit Recht ist es in
beiden Fällen vom Bundesrat abgelehnt worden, die Vorschrift des 2. Abf.
des Art. 76 anzuwenden. Die Frage, ob die eine oder die andere Dynastie
zur Thronfolge berechtigt ist, ist kein Verfassungsstreit. Denn diese Frage
hat mit der Verfassung überhaupt nichts zu tun, sie berührt nicht das
konstitutionelle Verhältnis zwischen Regierung und Volksvertretung, aus
dem allein ein Verfassungsstreit entstehen kann; vgl. die Ausführungen des
Abg. Zachariae im konst. Reichstag, Sitzung v. 9. April 1867 StB. 671,
anderer Ansicht Meyer § 212 A. 12, v. Rönne I S. 220 u. a. Eher
könnte Art. 76 Abs. 1 in Frage kommen, d. h. nur unter der Voraussetzung,
daß mindestens zwei Bundesstaaten die Angelegenheit der Thronprätendenten
zu der ihrigen machen und zwar vom entgegengesetzten Standpunkt, unter
Bestreitung des Rechts des andern. Jeder Bundesstaat ist berechtigt, sogar
die Interessen von Privatpersonen für wichtig genug zu halten, um sie
gegenüber einer anderen Bundesregierung, von der fie bestritten werden,
geltend zu machen und auf Grund des Art. 76 Abs. 1 die Entscheidung
des Bundesrats anzurufen, um wie viel mehr die für das öffentliche
Interesse schwer wiegenden Ansprüche des Thronprätendenten. Diesen Ge-
sichtspunkt hat aus Anlaß des Lippeschen Thronstreits der Staatssekretär
des Innern Graf Posadowsky-Wehner in der Reichstagssitzung v. 17. Jan.
1899 St. B. 246 hervorgehoben. Diese Auslegung dürfte allen praktischen
Erfordernissen genügen. Es kann z. B. der größte Bundesstaat Preußen,
das gemeinsame Interesse, das alle Bundesstaaten an der dem materiellen
Recht entsprechenden Regelung der Thronfolge haben, stets, auch wenn die
Prätendenten nicht preußische Staatsangehörige find, unter dem von Preußen
besonders zu beobachtenden militärischen oder auch unter irgendwelchen
anderen, die Beziehungen der Bundesfürsten zum Reich betreffenden Gesichts-
punkten wahren und unter Berufung darauf, daß das Bundesverhältnis in
Streitfällen besondere Garantien für die ordnungsmäßige Erledigung von
Thronstreitigkeiten verlangt, den Anspruch erheben, daß die Entscheidung
dieser Frage nicht dem Staat, um dessen Thronfolge es sich handelt, über-
lassen bleibt, sondern wegen der Beteiligung der Interessen aller anderen
Bundesstaaten auf Grund des Art. 76 Abs. 1 dem Bundesrat vorgelegt
wird. Die von Laband l S. 251 angewendete, zu demselben Ergebnis
führende Deduktion, daß die Ausdrücke „Bundesstaaten“ und „Bundesglieder“
in der Reichsverfassung identisch und daß unter den Bundesgliedern die
Bundesfürsten zu verstehen seien, ist nicht unbedenklich, weil z. B. im Art. 74
und 77 die Bezeichnung „Bundesstaat“ in einem Sinne gebraucht ist, daß
sie unmöglich identisch mit Bundesglied und Bundesfürst sein kann. Man
kann aber auch unabhängig von Art. 76 das Eingreifen des Bundesrats