XIV. Allgemeine Bestimmungen. Art. 78. 679
I. Gegenstand der Verfassungsänderung.
II. Die Form des verfassungändernden Reichsgesetzes.
III. Verfassungsänderungen im Bundesrat.
IV. Die Sonderrechte.
a) Begriff des Sonderrechts.
b) Die Zustimmung des berechtigten Bundesstaats.
I. Gegenstand der Verfassungsänderung.
Art. 78 bestimmt die Bedingungen, unter denen Veränderungen der
Verfaffung zustande kommen. Uber das Gebiet der Verfassung, das Gegen-
stand einer Veränderung sein kann, enthält Art. 78 keine Vorschrift. Dies
nötigt zu dem Schluß, daß nach dieser Richtung irgend eine Beschränkung
nicht gegeben, sondern alle Möglichkeiten vorbehalten werden sollten. Hier
wird unter Hinweis auf die Ausführungen zum Eingang II S. 12ff. der Stand-
punkt vertreten, daß formell nur der mit dem im Eingang befindlichen
Wort „Verfassung“ überschriebene, die Art. 1— 78 umfassende Teil der
Verfassung der Veränderung gemäß Art. 78 unterworfen ist, nicht aber auch
der Eingang selbst, dessen Bestimmung als „ewig“ bezeichnet ist und der
die Existenz der Einzelstaaten als selbständiger Staatswesen, — da sie sonst
nicht Mitglieder eines „Bundes“ sein könnten — ihren Zusammenschluß
zum Reiche und die allgemeinen Grundlagen für das Machtgebiet des Reichs
als Voraussetzungen der Reichsverfassung zum Ausdruck bringt. Im
übrigen ist der Möglichkeit von Verfassungsänderungen durch die Verfassung
selbst keine Schranke gesetzt, insbesondere ist es im Hinblick auf zahlreiche
Präzedenzfälle nicht mehr streitig, daß das Reich die Befugnis hat, auf
Grund des Art. 78 seine eigene Kompetenz zu erweitern. Aus dieser Be-
fugnis, der sogen. Kompetenz-Kompetenz kann theoretisch der Schluß auf
die Möglichkeit einer Machterweiterung des Reichs bis zur völligen Auf-
lösung der Einzelstaaten gezogen werden, aber praktische Bedeutung hat diese
Vorstellung nicht, weil selbst wenn im Reichstage einmal unitarische Ten-
denzen in einem dem Geiste der Reichsverfassung nicht entsprechenden Umfang
die Oberhand gewinnen sollten, der Widerspruch der Regierungen ausreicht,
um dahin zielende Anderungen der Verfassung zu verhindern, und zwar,
da 14 Stimmen im Bundesrat genügen, sowohl der Widerspruch Preußens
allein wie der der vereinigten drei anderen Königreiche und auch der Wider-
spruch der kleinsten Staaten des Reichs, aus denen sich mindestens 14 Stimmen
ergeben, selbst wenn sich nicht einmal soviel Kleinstaaten vereinigen, daß
sie zusammen über ein Staatsgebiet von dem territorialen Umfang einer
preußischen Provinz verfügen. Zweifellos liegt es im Sinne der Verfassung,
daß die durch veränderte Verhältnisse und veränderte Bedürfnisse des
Reichs erforderten Kompetenzerweiterungen ins Leben treten, aber eine plan-
mäßige Machterweiterung des Reichs, die nur der Tendenz folgt, den Einzel-
staaten Hoheitsrechte zu entziehen, um die Kompetenz des Reichs zu steigern,
würde weder dem Geist noch dem Wortlaut der Reichsverfassung entsprechen,
weil das letzte Ziel einer solchen Tendenz die Aufhebung der staatlichen
Selbständigkeit der Einzelstaaten ist und dieses Ziel im klaren Widerspruch
mit dem Eingang der Verfassung stehen würde, wo als Grundlage des
Reichs ein Bundesstaat, nicht ein Einheitsstaat vorausgesetzt ist. Es kann