Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

680 XIV. Allgemeine Bestimmungen. Art. 78. 
also nicht anerkannt werden, daß an der Hand der Bestimmung des Art. 78 
für die Verfassung die völlige Freiheit, sich aus sich selbst herauszuentwickeln, 
gegeben ist, ein Standpunkt, unter dem der ganze Inhalt der Verfassung 
provisorisch erscheinen müßte. Vielmehr geht aus vielfachen Erklärungen 
der Bundesratsvertreter hervor (z. B. Erklärung des Fürsten Bismarck in 
der Sitzung des preuß. Abgeordnetenhauses v. 16. März 1869 St. B. 90, 
des Fürsten Bülow in der Reichstagssitzung v. 5. Dez. 1900 St. B. 301, 
des Staatssekreärs des Innern Graf v. Posadowsky-Wehner in der Reichs- 
tagssitzung v. 20. Febr. 1903 St. B. 8085), daß die Verbündeten Regierungen 
ungeachtet der Bestimmung des Art. 78 durch die der Reichsverfassung voraus- 
gegangenen Verhandlungen sich gegenseitig für gebunden erachten — wenn 
auch nicht durch das positive Recht, so doch unter dem Gesichtspunkt von 
Treu und Glauben — in dem Verzicht auf Staatshoheitsrechte zugunsten 
des Reichs nicht weiter zu gehen, als bei der Gründung des Reichs 
beabsichtigt war. Darin liegt natürlich keine absolute Schranke, keine Ver- 
neinung von Bedürfnissen, die man damals nicht gekannt hat und die 
später erst neu hervorgetreten sind. Aber wenn man auf die Praxis in 
Ansehung der nachträglichen Kompetenzerweiterungen bis zur Gründung 
des Reichs zurückblickt, so ergibt sich, daß abgesehen von einigen mit einer 
Erweiterung der Reichskompetenz verbundenen Verfassungsänderungen, die 
relativ kurze Zeit nach der Gründung des Reichs in Kraft getreten sind, 
später das Reich in der Regel seine Kompetenz nur noch erweitert hat, 
wenn das Reich neue Aufgaben übernahm, die bisher überhaupt nicht in 
den Bereich der Staatsfunktionen fielen, sodaß die Kompetenzerweiterung 
nicht auf Kosten der Einzelstaaten stattfand, z. B. Arbeiterversicherung, neue 
indirekte Steuern. Man wird annehmen können, daß auch Kompetenz- 
erweiterungen, durch welche die Macht des Reichs auf Kosten der Einzel- 
staaten wächst, dann noch dem Geist der Verfassung und den ihr zugrunde 
liegenden Verträgen, die von den bis dahin in ihrer Unabhängigkeit un- 
beschränkten Bundesstaaten geschlossen sind, entsprechen, wenn diese Kompetenz- 
erweiterungen durch neu hervorgetretene wirtschaftliche Bedürfnisse oder neu 
entstandene politische Situationen, mit denen früher nicht gerechnet werden 
konnte, geboten sind. Andererseits wird nach den im Reichstage von 
Regierungsvertretern oft abgegebenen Erklärungen anzunehmen sein, daß in 
Ansehung der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die bei dem Ab- 
schluß der Verträge bereits übersehbar waren, die Verbündeten Regierungen 
in ihren Konzessionen schon bei der Gründung des Reichs soweit gegangen 
find als sie überhaupt haben gehen wollen. 
Wenn Art. 78 diese für Anderungen der Verfassung tatsächlich be- 
stehenden, der Verfassung selbst immanenten Voraussetzungen nicht zum 
Ausdruck bringt, so ist dies nur dadurch zu erklären, daß eine engere, aber 
alle Fälle deckende Formel nicht zu finden war; Art. 78 sollte ein Ventil 
für unvorhergesehene Fälle schaffen, aber nicht die geltende Verfassung als 
ein Provisorium erscheinen lassen und den Weg geben, auf dem sich das 
Reich zum Einheitsstaat entwickelt. 
Zu bemerken ist noch, daß, obwohl nach dem Wortlaut des Art. 78 
die ganze Verfassung — im engeren Sinne, d. h. Art. 1— 78 ausschließlich 
der Bestimmungen des Eingangs — der Veränderung unterworfen ist, dies 
doch nach dem klar zu Tage getretenen Willen der Gründer des Reichs nicht
	        
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