XIV. Allgemeine Bestimmungen. Art. 78. 681
auf die Bestimmung des Art. 78 Abs. 2 zu beziehen ist. Es kann also
die Bestimmung, die den Einzelstaaten garantiert, daß ihre Sonderrechte
nicht ohne ihre Zustimmung aufgehoben werden können, nicht auf Grund
des Art. 78 Abs. 1 beseitigt werden; vgl. Laband 1 S. 111. Endlich er-
gibt sich aus dem Wesen des Bundesstaats noch eine weitere Schranke:
als prinzipiell unzulässig sind alle Verfassungsänderungen anzusehen, die
zu einer ungleichmäßigen Behandlung der Einzelstaaten führen, also z. B.
nur einem oder einzelnen Bundesstaaten Rechte entziehen, die den anderen
Staaten erhalten bleiben; ebenso Laband 1 S. 105, 117. Es würde dem
durch den Eingang der Reichsverfassung verbürgten Grundsatz der Gleich-
berechtigung widersprechen, wenn das Reich seine Kompetenz anders als auf
Kosten sämtlicher Einzelstaaten ausbilden wollte.
Soweit danach praktisch noch die Möglichkeit zu Kompetenzerweite-
rungen des Reichs übrig bleibt, müssen die Bundesfürsten sich durch ihre
Teilnahme am Bundesrat und dadurch entschädigt fühlen, daß Macht-
erweiterungen des Reichs auch mit einer Machterweiterung des Bundesrats
verbunden sind; vgl. die Ausführungen des Abg. Lasker in der Reichstags-
sitzung v. 5. Dez. 1870 St. B. 84.
II. Die Form des verfassungändernden Reichsgesetzes.
Für die Form des verfassungändernden Reichsgesetzes werden in der
Praxis zwei verschiedene Wege eingeschlagen: entweder es wird durch das
Gesetz die betreffende Bestimmung der Verfassung ausdrücklich aufgehoben
und die neue Bestimmung an ihre Stelle gesetzt und damit zu einem Be-
standteil der Verfassung gemacht oder das Gesetz wird ohne Hinweis
auf die Verfassung erlassen und man überläßt es der Auslegung, ob es
mit den Bestimmungen der Verfassung vereinbar ist oder ob die Verfassung
durch das neue Gesetz geändert ist. Der Weg der ausdrücklichen Verfassungs-
änderung ist z. B. gewählt bei Erweiterung des Art. 4 Ziff. 9 durch Auf-
nahme der Seeschiffahrtszeichen und bei Ziff. 13 durch Aufnahme des gesamten
bürgerlichen Rechts, bei Art. 32 durch Einführung der Entschädigung für
die Reichstagsmitglieder, bei Art 28 durch Beseitigung der stio in partes
für die Reichstagsmitglieder, bei Art. 59 durch die endgültige Umwandlung
der dreijährigen Dienstzeit in eine zweijährige, bei Art. 70 durch Neu-
regelung der Matrikularbeiträge. Dagegen ist der Weg der stillschweigenden
Anderung der Verfassung z. B. eingeschlagen bei der Aufnahme von Elsaß-
Lothringen in das Reich (Art. 1 R.V.), bei verschiedenen unter Art. 4
fallenden Kompetenzerweiterungen, z. B. der Einrichtung des Reichs--Ober-
handelsgerichts und des Reichsgerichts, der Arbeiterversicherung, bei dem
Eingriff in die Kommunalbesteuerung durch das Zolltarifgesetz von 1902,
bei der Umwandlung der dreijährigen Legislaturperiode in eine fünfjährige,
bei der Einführung der Franckensteinschen Klausel (Art. 70), bei der Ein-
führung verantwortlicher Stellvertreter für den Reichskanzler (Art. 17),
bei der erstmaligen Einführung der zweijährigen Dienstzeit und bei der
Einführung einer zeitweiligen Entschädigung der Reichstagsmitglieder aus
Anlaß der Beratung der Reichsjustizgesetze und des Zolltarifgesetzes von
1902; namentlich aus Anlaß des letzteren Gesetzes wurde die Frage im
Reichstag serörtert und dabei die Zulässigkeit des Verfahrens der still-