II. Reichsgesetzgebung. Art. 2. 61
zustande gekommen sind und ob fie mit den gegebenenfalls in Betracht zu
ziehenden höheren Rechtsgrundsätzen vereinbar find.
Ein praktischer Unterschied zwischen Gerichts= und Verwaltungsbehörden
ergibt sich hierbei allerdings dadurch, daß die Gerichte gemäß § 1 des
G.V. G. unabhängig find und ihre Entscheidungen nur im gesetzlichen In-
stanzenzuge abgeändert, daß ihnen aber nicht — außer durch Gesetz —
allgemeine Vorschriften darüber gegeben werden können, ob fie bei der Fest-
stellung des geltenden Rechts irgendeine Prüfung vornehmen oder unter-
lassen sollen, während die Verwaltungsbehörden, sofern sie nicht etwa
Geschäfte der Rechtspflege wahrnehmen, den Anweisungen ihrer vorgesetzten
Behörden unterworfen find; die höchsten Verwaltungsstellen des Reichs
und der Einzelstaaten — der Bundesrat, der Reichskanzler und die Regie-
rungen der Einzelstaaten — würden einschreiten müssen, wenn die ihnen
untergebenen Verwaltungsbehörden bezüglich der Rechtsgültigkeit von Normen
des Reichs eine andere Ansicht vertreten wollten, als im Bundesrat maß-
gebend war, der doch die betreffende Rechtsvorschrift — Reichsgesetz oder
Reichsverordnung — für gültig angesehen haben muß, da er ihr anderns-
falls nicht zugestimmt haben würde.
Grundsätzlich besteht aber für alle mit der Anwendung des geltenden
Rechts beauftragten Behörden das Prüfungsrecht, soweit es nicht durch
pofitive Rechtsvorschriften ausgeschlossen ist. Ob für das Reich solche Vor-
schriften vorhanden find, ist streitig. Für Preußen bestimmt Art. 106 der
preußischen Verfassungsurkunde:
„Gesetze und Verordnungen find verbindlich, wenn sie in der vom
Gesetze vorgeschriebenen Form bekanntgemacht worden find.
Die Prüfung der Rechtsgültigkeit gehörig verkündeter Königlicher Ver-
ordnungen steht nicht den Behörden, sondern nur den Kammern zu.“
Eine dem Absatz 2 dieser Bestimmung entsprechende Vorschrift enthält
die Reichsverfassung nicht, und es ist auch anzunehmen, daß Art. 106 den
preußischen Behörden weder die Prüfung von Rechtsvorschriften des Reichs
noch die Prüfung der Frage untersagt, inwiefern an sich gültige Landes-
gesetze und Landesverordnungen neben dem Reichsrecht bestehen können.
Denn bei dem Erlaß der preußischen Verfassungsurkunde war an das Reichs-
recht und an das Verhältnis des Reichsrechts zum Landesrecht noch nicht
zu denken, und wenn die preußische Verfassungsurkunde nachträglich dahin
ausgelegt werden sollte, daß sie das Recht der Behörden, zu prüfen, ob
und inwieweit das Landesrecht neben dem Reichsrecht bestehen kann, ein-
schränkt, so würde darin ein nicht zulässiger Eingriff der Gesetzgebung
eines Einzelstaates gegenüber dem Reichsrecht zu finden sein. Eine andere
Frage aber ist es, ob die Reichsverfassung selbst eine Einschränkung des
Prüfungsrechts der Behörden enthält; dies ist auf Grund des 2. Satzes
des Art. 2 zu bejahen. Wie oben (S. 47) ausgeführt, ist es nach Art. 2,
17 Recht und Pflicht des Kaisers zu prüfen, ob die Reichsgesetze, die als
solche verkündigt werden sollen, als Reichsgesetze gültig zustande gekommen
sind. Fällt diese Prüfung zugunsten der Gültigkeit aus und wird das
Reichsgesetz darauf als solches verkündet, so erhält es durch die Verkündigung
seine verbindliche Kraft. Es fehlt an jedem Anhalt dafür, daß die ver-
bindliche Kraft sich nur auf Privatpersonen und nicht auf Behörden bezieht.
Wird eine Rechtsvorschrift als Reichsgesetz verkündet, so wird durch die