682 XIV. Allgemeine Bestimmungen. Art. 78.
schweigenden Verfassungsänderung von dem Abg. Bachem in der Sitzung
v. 28. April 1902 St.B. 5139 A und v. 2. Mai 1902 St. B. 5236 A
anerkannt; vgl. auch die Ausführungen des Kommissions-Berichterstatters
Abg. v. Tiedemann in der Sitzung v. 2. Mai 1902 St.B. 52328B
und namentlich des Staatssekretärs des Innern Graf v. Posadowsky-Wehner
in derselben Sitzung St. B. 5248B, der ebenfalls die Zulässigkeit der still-
schweigenden Verfassunsänderung verteidigte und davon ausging, daß Ein-
griffe in den Text der Verfassungsurkunde nur bei Anderungen, die 1. be-
sonders wichtig und 2. für die Dauer in Aussicht genommen sind, dagegen
einfache Spezialgesetze ohne ausdrückliche Aufhebung des entgegenstehenden
Textes der Verfassungsurkunde bei Anderungen, für die es an einer dieser
beiden Voraussetzungen fehlt, am Platze seien. Der Vorschlag, den hier
der Staatssekretär für die in dieser Frage zu beobachtende Gesetzestechnik
machte, würde gegenüber der bisherigen Schwankung der Proxis eine gelungene
Lösung bieten. Bisher ist dieses Verfahren nicht durchweg eingeschlagen
worden; z. B. ist die Franckensteinsche Klausel, die gegenüber dem Art. 70
eine Verfassungsänderung von fundamentaler Bedeutung darstellte und für
die eine nur vorübergehende Geltung von vornherein nicht in Aussicht ge-
nommen war, ohne entsprechende Anderung des Verfassungstextes eingeführt
worden. In anderen Fällen ist dagegen die vom Staatssekretär des Innern
angegebene Regel befolgt worden; z. B. wurde die zweijährige Dienstzeit
ohne Anderung des Textes des Art. 59 eingeführt, und die Geltung der
Resorm war zunächst auf eine bestimmte, relativ kurze Zeitdauer beschränkt;
sobald die zweijährige Dienstzeit endgültig eingeführt wurde — nämlich
durch das Gesetz von 1905 — wurde gleichzeitig der Text des Art. 59
förmlich geändert.
In der Literatur wird meist — ohne Unterscheidung der prinzipiellen
und minder wichtigen, dauernden und vorübergehenden Veränderungen —
der Standpunkt vertreten, daß eine Verfassungsänderung durch einfaches
Spezialgesetz zwar zulässig, aber weniger korrekt sei; so Laband II S. 34 ff.,
Zorn I S. 432, Meyer § 164 A. 3. Arndt S. 190 billigt die bisherige
Praxis schlechthin, v. Rönne II 1 S. 32 hält es für unzulässig, daß Ver-
fassungsänderungen durch einfache Spezialgesetze implicite vorgenommen
werden. Die herrschende Ansicht ist richtig. Der Satz „lex posterior derogat
prior!“ gilt auch für die Verfassung; sie hat in Ansehung ihrer Wirkung
keine größere Kraft als irgendein anderes Reichsgesetz und wird deshalb
durch jedes spätere, gegenteilige Bestimmungen enthaltende Reichsgesetz partiell
außer Kraft gesetzt. Im konst. Reichstage hatte übrigens der Abg. Micquel
einen Antrag gestellt, der eine Ergänzung der Verfassung durch Spezial=
gesetze ohne förmliche Anderung der Verfassung ausdrücklich zulassen sollte;
vgl. Anlagen Nr. 16 Ziff. 8 und Sitzung v. 21. März 1867 St.B. 316;
der Antrag wurde abgelehnt, nachdem der Bundeskommissar Hofmann in
derselben Sitzung St. B. 319 ihn als überflüssig bezeichnet hatte, da der
Standpunkt, daß mit jeder Kompetenzerweiterung des Reichs eine Amendie-
rung des Verfassungstextes verbunden werden müsse, ihm eine zu formale
Auffassung der Sache zu sein scheine. Der gleichzeitig von dem Bundes-
kommissar in Empfehlung gebrachte Modus, es möge im Eingang des Ge-
setzes darauf hingewiesen werden, daß das Gesetz eine Verfassungsänderung
enthalte und daß die hierbei nötigen Formen gewahrt seien, ist von der