II. Reichsgesetzgebung. Art. 3. 69
der Einzelstaaten Rechnung getragen. Dies ist nicht nur dadurch geschehen,
daß — abgesehen von zwei aus der Natur der Sache sich ergebenden, Elsaß-
Lothringen und die Schutzgebiete betreffenden Ausnahmen — die Zugehörigkeit
zu einem Einzelstaate als Grundlage für die Rechte und Pflichten der Reichs-
angehörigen aufrecht erhalten ist und nur durch die Zugehörigkeit zu einem
Einzelstaate die Reichsangehörigkeit erworben wird, sondern auch dadurch,
daß der im Art. 38 zum Ausdruck gekommene Grundsatz der Gleichberechti-
gung der Deutschen in seinen praktischen Folgen so bestimmt formuliert ist,
daß er wohl im großen Ganzen als durchgeführt gelten kann, daß anderer-
seits aber einer extensiven Interpretation — insbesondere nach der Richtung
der das innere Verfassungsleben der Einzelstaaten berührenden politischen
Rechte — vorgebeugt ist. Hierzu ist noch zu bemerken, daß wenn vor-
stehend die Rechtsgleichheit aller Deutschen als Inhalt des Art. 3 be-
zeichnet ist, dabei natürlich nicht an die Aufhebung der etwa noch be-
stehenden Rechtsunterschiede der einzelnen Stände und Klassen sowie der
Geschlechter, sondern nur an die Aufhebung der auf Grund der Ver-
schiedenheit der Staatsangehörigkeit in den einzelnen Bundesstaaten be-
stehenden Rechtsunterschiede zu denken ist; die Rechtsgleichheit bedeutet also
nur die Gleichstellung der Angehörigen anderer Bundesstaaten mit den
eigenen Staatsangehörigen.
Die Bedentung des Art. 3 als einer Bestimmung von unmittelbaren
praktischen Folgen ist jetzt wesentlich abgeschwächt durch die Reichsgesetze,
die unter übernahme der im Art. 3 enthaltenen Grundsätze diese Ver-
fassungsbestimmung näher ausgeführt und sie damit in ihrer Rolle als
unmittelbare Rechtsquelle zum großen Teil ersetzt haben, namentlich die
Reichsgesetze über Freizügigkeit, Erwerb und Verlust der Staatsangehörig-
keit, Unterstützungswohnsitz, Gewerbewesen und die Reichsjustizgesetze. Doch
gilt dies nicht für alle Fälle. Der im Art. 3 enthaltene Grundsatz der
Rechtsgleichheit aller Deutschen — in dem oben ausgeführten Sinne ver-
standen — ist auch jetzt noch eine pofitive Bestimmung von unmittelbarer
praktischer Bedeutung. Diese Bestimmung steht der Gültigkeit derjenigen
landesrechtlichen Vorschriften entgegen, die den Grundsatz der Rechtsgleich-
heit verletzen, und selbst soweit an die Stelle des Art. 3 spezielle Reichs-
gesetze getreten sind, ist Art. 3 nach der formellen Seite bedeutungsvoll
geblieben, da die den Art. 8 ausführenden Reichsgesetze zwar durch andere
Reichsgesetze ohne weiteres verändert und aufgehoben werden können, aber
es würde ein verfassungsänderndes Reichsgesetz erforderlich sein, wenn von
dem Grundsatz der Rechtsgleichheit der Deutschen — wie er durch Art. 3
formuliert ist — abgewichen werden sollte; vgl. Laband 1 S. 172. Art. 3
ist also noch jetzt eine Schranke für die Landesgesetzgebung; für die Reichs-
gesetzgebung kommt er in dieser Beziehung kaum in Betracht. Denn es
ist praktisch nicht damit zu rechnen, daß durch ein Reichsgesetz für die
Einzelstaaten überhaupt verschiedene Normen aufgestellt werden, und zwar
von einer Verschiedenheit, die dem im Art. 3 aufgestellten Grundsatz wider-
spricht.
Diesen Grundsatz der Rechtsgleichheit hat die Reichsverfassung durch
die im Art. 3 enthaltene Bestimmung eingeführt, daß für ganz Deutschland
„ein gemeinsames Indigenat“ bestehen soll.