Arbeiterversicherung (Allgemeines)
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anzen Gebiete der ArbV, jedenfalls soweit der
Bellscherungszwang reicht, mit geringen Aus-
nahmen den Arbeitgebern auferlegt. Indem sie
aber einen Teil der Beiträge (bei der KW ½/ bei
der IB 1½) ihren Arbeitern bei der Lohnzahlung
in Anrechnung bringen dürfen, treten auch letz-
tere als Lastenträger hinzu. Neben beiden Klassen
der Beteiligten erscheinen auch politische Ver-
bände, d. h. finanziell betrachtet, die Gesamtheit
der in ihnen vereinigten Steuerzahler, als be-
lastet, so vor allem das Reich durch den zu den
Invaliden= und Altersrenten gewährten Reichs-
zuschuß, die Gemeinden durch die Kosten und
eventuellen Zuschüsse bei der Gemeinde KV usw.
#§s 6. Resorm und Erweiternug. Die deutsche
Arb V in ihrer gegenwärtigen Gestalt ist kein in
sich geschlossenes und abgeschlossenes Ganze. Weit-
gehende Reformpläne und wesentliche Erweite-
rungsabsichten bewegen die öffentliche Meinung
und bilden einen Gegenstand gesetzgeberischer Er-
wägungen.
1. Die auf die Reform der Arb# gerichteten
Vorschläge sind so mannigfaltig, daß an eine Dar-
stellung und Würdigung derselben im einzelnen
an dieser Stelle auch nicht entfernt gedacht werden
kann. Es muß eine übersichtliche Gruppierung der
in ihnen hervortretenden Richtungen genügen.
Zunächst ist naturgemäß eine Fülle von Vor-
schlägen auf die Beseitigung wirklicher oder ver-
meintlicher Mißstände gerichtet, welche auf einem
oder mehreren einzelnen Gebieten der Arb V,
je für sich betrachtet, hervorgetreten sind. Sie ge-
hören nicht in eine allgemeine Betrachtung der
Arb V. Nur im Anschluß an die in ## 4 gegebenen
Erörterungen über die Rechtsnatur derselben möge
hervorgehoben sein, daß eine Reihe von solchen
Vorschlägen absichtlich oder doch tatsächlich dem
Ziele zuführen, die in der gegenwärtigen Gestal-
tung unseres Rechts noch wirksamen versicherungs-
artigen Elemente im Interesse einer entschiedene-
ren und praktischeren Durchführung der sozialpoliti-
schen Fürsorge einzuschränken. Dahin gehören
namentlich die auf dem Gebiete der JV# hervortre-
tenden Tendenzen, die dort noch am meisten vor-
handene Bedingtheit der Ansprüche durch die tat-
sächliche und dauernde Entrichtung der Beiträge und
ihre Höhe (sog. Aequivalenzsystem) zu beseitigen
oder doch herabzusetzen (z. B. Aufhebung der War-
tezeit, zeitlich unbeschränkte Nachbringung von
Beiträgen, Beseitigung des Erlöschens der An-
wartschaft durch nicht ausreichende Beitrags-
leistung). Die oben ausgesprochene Warnung, das
sormale Prinzip der Versicherung in seinem Werte
zu überschätzen, wird gerade bei Würdigung sol-
cher Vorschläge zu beachten sein.
Ueber die Einzelreform gehen diejenigen Vor-
schläge hinaus, welche sich auf die Vereinheit-
lichung der Arb V, d. h. auf die Ausgleichung der
auf ihren Einzelgebieten bestehenden Verschieden-
heiten, und die dadurch zu bewirkende Verein-
fachung derselben beziehen. Wie groß diese, keines-
wegs immer innerlich begründeten Verschieden-
heiten sind, die sich namentlich auf den Kreis der
Versicherten, die Organisation, die Durchführung
der Ansprüche, die Beitragssysteme, die Beteili-
gung der Arbeiter und Arbeitgeber an der Leistung
der Beiträge und an Verw und Rechtsprechung
beziehen, geht schon aus der in §& 5 gegebenen ge-
drängten Darstellung der Grundlagen der Arb
hervor. Selbst bei völliger Wahrung der bisheri-
gen Selbständigkeit der einzelnen Versicherungs-
zweige und der für sie maßgebenden Gesetze ließe
sich hier viel für das befriedigende Ineinander-
greifen ihrer Wirksamkeit erreichen. "6
Aber auch die wirkliche Verschmelzung des
dreifach verzweigten Arb VRechts bildet ein drin-
gend erwägenswertes Problem. Daß es als solches
auch von den maßgebenden Faktoren des Reichs
anerkannt wird, geht aus verschiedenen Aktionen
derselben hervor. Erwähnt sei, daß schon im No-
vember 1895 eine im Reichsamt des Innern zu-
sammengetretene Konferenz von Interessenten
und Sachverständigen auch mit dieser Frage be-
faßt wurde. Bedeutsam namentlich ist aber die
am 20. 4. 0O3 ein stimmig beschlossene Reso-
lution des RT, „die verbündeten Reg zu ersuchen,
in Erwägung darüber einzutreten, ob nicht die
3 Versicherungsarten (Kranken-, Invaliden= und
U## in eine organische Verbindung zu bringen
und die bisherigen Arb VGesetze in einem einzigen
Gesetz zu vereinigen seien“. Die Vertreter der
Reichs Reg haben sich wiederholt dem entgegen-
kommend geäußert, und namentlich dürfte auch
de lege ferenda folgende zunächst rückschauende
Betrachtung des Staatssekretärs Grafen Posa-
dowsky v. 2. 3. 05 zu beachten sein: „Wenn wir
heute res integra hätten, würde doch kein vernünf-
tiger Mensch, glaube ich, daran denken, eine be-
sondere Organisation der KV, eine besondere Or-
ganisation der UV und eine besondere Organisa-
tion der Alters= und Invaliditätsversicherung zu
schaffen. Unfall, Krankheit und Invalidität sind
doch drei, ich möchte sagen physiologische (7) Zu-
stände, die miteinander in ihren Ursachen und
Wirkungen eng zusammenhängen (sehr richtig!).
Das sog. System unserer sozialpolitischen Gesetz-
gebung ist lediglich ein Erzeugnis chronologischer
Entwicklung. Würde man heute die sozialpolitische
Gesetzgebung neu aufbauen, dann wäre, glaube
ich, in diesem Hause auch nicht der geringste Streit
darüber, daß eine einheitliche Organisation ge-
schaffen werden müßte (Sehr richtig und lebhaftes
Bravo auf allen Seiten des Hauses). — — Ich
glaube also, meine Herren, es muß eine Aufgabe
der Zukunft sein, diese 3 großen Versicherungs-
gesellschaften in eine einheitliche Form zusammen-
zufassen (wiederholter Beifall auf allen Seiten
des Hauses)“.
Wichtig aber ist es, sich über die verschiedenen
Möglichkeiten und Grade der Verschmelzung klar
zu werden. Möglich ist zunächst eine bloß kodi-
fikatorische Verschmelzung d. h. die Zu-
sammenfassung sämtlicher Arb VGesetze, eventuell
nach Revision derselben im einzelnen, zu einem
einheitlichen Gesamtversicherungsgesetze. Mög-
lich ist aber weiter eine organisatorische
Verschmelzung, welche sich wiederum entweder
auf alle 3 Versicherungsgebiete oder auf zwei der-
selben in verschiedener Kombination beziehen kann.
Namentlich ist eine organisatorische Verschmelzung
einerseits der Unfall- und JV#, andererseits aber
der Invaliden= und KV vorgeschlagen worden.
Dabei kann die Gemeinschaft der Organisation
eine mehr oder weniger entschiedene sein, je nach-
dem sie den Versicherungsträger selbst ergreift,
z. B. die JV Anstalten zugleich zu Trägern der KV
oder auch der UV oder die (gewerblichen) Berufs-
genossenschaften auch zu Trägern der JV macht,