Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

254 Die Ferreichischungarische Morarchie. (Mai 22./25.) 
In Ungarn äußern sich die Organe der Unabhängigkeitspartei 
kühl und feindselig, weil Deutschland den Ungarn während ihrer letzten 
Kämpfe kein Zeichen der Sympathie gegeben habe. Handelsminister Kossuth 
wendet sich gegen diese Anschauung; schon aus wirtschaftlichen Rücksichten 
müsse Ungarn gute Beziehungen zu Deutschland wahren. Ministerpräsident 
Wekerle sagt (13. Mai): Jede Partei, mit Ausnahme eines kleinen Bruch- 
teiles, billigt das Bündnis mit Deutschland, welches nicht nur eine Garantie 
des Friedens, sondern ein Grundpfeiler unserer auswärtigen Politik ist. 
Wir müssen von diesem Bündnisse nicht nur alle abenteuerlichen Versuche, 
sondern auch alle, meines Wissens völlig unwahren Gerüchte fernhalten, 
als ob irgend eine Einmischung von seiten Deutschlands in unsere inneren 
Angelegenheiten erfolgt wäre. (Lebhafte Zustimmung.) Ich drücke hiermit 
die Ueberzeugung aus, daß die Monarchie auch weiterhin ein gleichwertiger 
Faktor des deutschen Bündnisses zu bleiben wünscht. 
22. Mai. (Ungarn.) Der König eröffnet auf der Ofener 
Burg den Reichstag. 
In der Thronrede heißt es: „Unserem landesväterlichen Herzen ist 
es schmerzlich, auf die Begebenheiten der jüngsten Vergangenheit, die den 
ordentlichen Gang des konstitutionellen Lebens gestört haben, zurückzublicken. 
Wir sagen der göttlichen Vorsehung Dank, daß die unheilvollen Miß- 
verständnisse geschwunden sind. Das Einverständnis mit dem frei ge- 
äußerten Willen der Nation ist Unser heißersehnter Wunsch und Wir hegen 
die sichere Hoffnung, daß das verfassungsmäßige Zusammenwirken sämt- 
licher Faktoren der Gesetzgebung künftig stets ungetrübt bleiben wird."“ 
Die Thronrede zählt sodann die Aufgaben des künftigen Reichstags auf 
und erklärt dabei, daß, obwohl die mit den Verbündeten bestehenden, auf 
die Erhaltung des Friedens abzielenden engeren Verhältnisse und freund- 
schaftlichen Verbindungen mit den anderen fremden Staaten eine erfreuliche 
Gewähr des Friedens böten, doch für die Erhaltung und Ausgestaltung 
der Wehrmacht vorgesorgt werden müsse. Es sei daher notwendig, neben 
der Bewilligung des ordentlichen Rekrutenkontingents auch jene außer- 
ordentlichen Ausrüstungsbedürfnisse zu befriedigen, die von früheren De- 
legationen bereits als notwendig anerkannt und gutgeheißen worden seien. 
Die Thronrede kündigt schließlich an, daß nach Beendigung der Wahlreform 
die Einberufung eines neuen Reichstags erfolgen werde. " 
22./25. Mai. (Cisleithanien.) Abgeordnetenhaus. Debatte 
über die Regierungserklärung. 
Abg. Dzieduszycki (Pole): Die Haltung des Polenklubs gegenüber 
der neuen Regierung werde davon abhängen, wie diese sich in ihren Hand- 
lungen gegenüber den Bedürfnissen Galiziens und der polnischen Bevölke- 
rung erweisen werde. Was die Wahlreform angehe, so würde es Sache 
der Regierung sein, durch Entgegenkommen gegenüber den berechtigten 
Forderungen des Polenklubs es diesem zu ermöglichen, der Reform zuzu- 
stimmen. Hinsichtlich der Verhandlungen mit Ungarn werde der Polen- 
klub sein Verhalten nicht von der Stellung zur Regierung abhängig machen, 
sondern jeweilig für diejenigen Maßregeln stimmen, die ihm für die Macht- 
stellung und die notwendige Einheit der Monarchie ersprießlich erschienen. 
Ab. Stein (alldeutsch): Die Wahlreformvorlage sei ohne Sonderstellung 
Galiziens undenkbar. Er fordere ferner die Festlegung der deutschen Staats- 
sprache in Oesterreich; die jetzigen trostlosen Verhältnisse rührten her von 
dem Mangel an einer führenden Regierung und an einem selbstbewußten 
Parlamente. Abg. Stransky (Tscheche): In der Regierungsvorlage handle
	        
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