Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Erster Band. A bis F. (1)

  
3. Die Uebergabe muß zum Zwecke straf- 
rechtlicher Verfolgung geschehen. Dies trifft 
auch dann zu, wenn die zu übergebende Person 
schon verurteilt ist. Dagegen empfiehlt es sich 
nicht, von A. zu sprechen, wenn durch die Ueber- 
gabe in erster Linie ein Dienstzwang her- 
beigeführt werden soll, wie bei entlaufenen Sol- 
daten und Schiffsleuten, zumal da in diesen Fällen 
meist besondere Regeln eingreifen, die nicht in 
A. Verträgen, sondern in Konsular= oder Schiff- 
fahrtsverträgen festgesetzt sind. 
§ 2. Juristische Natur. Die A. ist ein Akt 
völkerrechtlicher Rechtshilfe, d. h.: durch die A. 
macht der Staat keinen eigenen Strafanspruch 
geltend, sondern er unterstützt nur die Geltend- 
machung eines fremden (a. A. Lammasch). Sie 
dient der Gerechtigkeitsidee und dem internatio- 
nalen Rechtsschutz. Entbehrlich wäre sie nur, wenn 
der Zufluchtsstaat entweder ohne Rücksicht auf 
den Tatort, auf die Nationalität des Verbrechers 
und auf die Zugehörigkeit des verletzten Interesses 
selbst bestrafte (universelle Strafrechtspflege) 
oder den Organen des verfolgenden Staates die 
Ergreifung des Verbrechers auf seinem Gebiete 
erlaubte. Jenes tut der Staat nicht wegen der 
tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten, die 
mit eigener Bestrafung verbunden wären, die- 
ses verweigert er, weil es sich mit seiner Sou- 
veränität nicht vertrüge. Allerdings finden sich 
in letzterer Beziehung Modifikationen. Zunächst 
in der zuweilen vertragsmäßig gewährten Be- 
fugnis der Nacheile, kraft deren die Polizei- 
behörden berechtigt sind, flüchtige Verbrecher über 
die Grenze hinaus zu verfolgen. Indessen wird 
hierdurch die Notwendigkeit der A. grundsätzlich 
nicht berührt, weoil die Polizeibeamten den Er- 
griffenen den Behörden des Zufluchtsstaates über- 
geben müssen, ihn also nicht eigenmächtig über 
die Grenze zurückführen dürfen. In diesem Sinn 
z. B. die Uebereinkünfte, welche Oesterreich 1852, 
1863 und 1864 mit Sachsen, Bayern, Württem- 
berg, Baden und Preußen geschlossen hat. So- 
dann kommt es innerhalb eines bundesstaat- 
lichen Verhältnisses vor, daß die unteren Organe 
des Zufluchtsstaates den Behörden des verfolgen- 
den ebenso zur Verfügung gestellt werden, als 
wären sie dessen eigene. So das deutsche GVG 
§§& 161, 162. Auf diese Weise werden die Staats- 
grenzen in strafrechtlicher Beziehung zu Grenzen 
von Gerichtsbezirken und die A. wandelt sich 
zur Ablieferung. In Deutschland tat man diesen 
Schritt erst, nachdem das materielle Strafrecht 
und das Strafprozeßrecht wesentlich einheitlich 
gestaltet waren. Vorher kannte das Rechtshilfe G 
v. 21. 6. 69 noch eine A. unter den Einzelstaaten. 
Aber diese war keine A. im engeren Sinn, weil 
sie sich nicht nach Völkerrecht beurteilte. Auch 
innerhalb der Vereinigten Staaten von Amerika 
vermeidet man jetzt bei Uebergabe einer Person 
von dem einen Unionsstaate an den andern den 
Ausdruck extradition und spricht lieber von ren- 
dition. 
6 3. Geschichtliches. Die völkerrechtliche Auf- 
fassung der A. hat sich erst allmählich entwickelt. 
Im früheren Mittelalter spielte sie sich als pro- 
zessualische Rechtshilfe unter den Gerichten ab, 
ohne daß die politischen Behörden in Tätigkeit 
getreten wären. Ihren völkerrechtlichen Charak- 
ter gewann sie mit der Erstarkung der terri- 
  
–" 
  
Auslieferung 
torialen Gewalt und zwar zunächst in Italien, 
wo es die Territorialherren durchsetzten, daß sie 
nur mit ihrer Erlaubnis stattfinden konnte. Diese 
jüngere Auffassung fand auch in Deutschland Auf- 
nahme, büßte aber allmählich vieles von ihrer 
Schroffheit ein. Namentlich entwickelte sich der 
Satz, daß die A. innerhalb des Reiches 
bei sog. allgemeinen Rechtsverbrechen die Mit- 
wirkung des Landesherrn nicht voraussetze. Mit 
der Auflösung des Reiches gewann zwar auch im 
Rechtsverkehr innerhalb Deutschlands zunächst 
die völkerrechtliche Auffassung die Oberhand, all- 
mählich aber trug die Bundesgewalt auf diesem 
Gebiete dem Einheitsgedanken Rechnung. Nach- 
dem im Jahre 1836 der Bund einen Beschluß 
über die A. politischer Verbrecher unter den ver- 
bündeten Staaten erlassen hatte, legte er ihnen 
am 26. 1. 54 bei allen Verbrechen und Ver- 
gehen (abgesehen von Polizei= und Finanzdelik- 
ten) eine A. Pflicht ohne diplomatischen Verkehr 
(also von Gericht zu Gericht) auf. Obwohl die 
staatsrechtliche Zuständigkeit des Bundes sehr 
zweifelhaft war, hat die Praxis beide Beschlüsse 
befolgt. In der Gegenwart nimmt man an, daß 
der ältere aufgehoben, der jüngere aber für die 
Beziehungen zwischen den deutschen Staaten 
einerseits, und Oesterreich andererseits noch in 
Kraft ist. Die fortdauernde Gültigkeit hinsichtlich 
derjenigen Staaten, die sich 1866 im Kriege be- 
funden haben, stützt man auf a 13 des Prager 
Friedens. Auch die ungarische Reg., auf deren 
Gebiet der Beschluß im Jahre 1855 ausgedehnt 
wurde, befolgt ihn tatsächlich, wenn auch unter 
Protest gegen seine Rechtsverbindlichkeit. . 
Mit dem Emporkommen der völkerrechtlichen 
Auffassung trat die A. in den Dienst der Politik: 
schien es dem Zufluchtsstaate angezeigt, dem ver- 
folgenden eine Freundlichkeit zu erweisen, so ge- 
währte er sie, wenn nicht, lehnte er sie ab. Diesem 
politischen Prinzip stellte Hugo Gro- 
tius das Rechtsprinzip gegenüber, inso- 
fern er die Verfolgung des Verbrechers im Zu- 
fluchtsstaate an bestimmte Rechtssätze binden 
wollte. Diese dachte er sich we,entlich im Sinne 
einer Pflicht zur Verfolgung, in der Art, daß 
der Zufluchtsstaat entweder selbst strafen oder 
ausliefern solle. Indessen vermochte er damit 
nicht durchzudringen, zumal da Samuel Pu- 
fendorf entschieden darauf hinwies, daß ipso 
iure kein Staat zur A. verpflichtet sei. Später 
gelangte allerdings das Rechtsprinzip im ent- 
gegengesetzten Sinn in Großbritannien und den 
Vereinigten Staaten von Amerika zur Anerken- 
nung, insofern sich dort seit dem Ende des 18. 
Jahrhunderts der noch jetzt festgehaltene Satz aus- 
bildete, daß die A. im allgemeinen zu verweigern 
und — abgesehen von der Möglichkeit einer be- 
sonderen Parlamentsakte — nicht von Fall zu 
Fall, sondern nur auf Grund eines generellen 
A. Vertrages zu bewilligen sei. Tatsächlich ver- 
langte England die A. allgemein, gewährte sie 
aber bis zum Frieden von Amiens nur an die 
Vereinigten Staaten von Amerika. Diese letzteren 
haben erst seit den 40er Jahren des 19. Jahrhun- 
derts A. Verträge abgeschlossen. 
Das Ergebnis der Entwicklung läßt sich dahin 
zusammenfassen, daß die A. einen völkerrecht- 
lichen Charakter angenommen hat und nur noch 
wenige Reste eines prozessualen Instituts auf-
	        
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