Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Erster Band. A bis F. (1)

  
16 Abgeordnete 
a) Die Entstehung. Die Entwickelung 
ist von England ausgegangen (vol. Hubrich, 
Die parlamentar. Redefreiheit und Disziplin 15 ff). 
Aus bescheidenen gewohnheitsrechtlichen Anfän- 
gen, die bis in das 14. Jahrhundert zurückreichen, 
war schon zu Ende des 16. Jahrhunderts der Grund- 
satz erwachsen, daß allein dem Hause selbst die 
Kognition über die parlamentarischen Aeußerun- 
gen seiner Mitglieder zustehe. Er ist dann dauernd 
allen Anfechtungen durch a 9 der bill of rights 
von 1689 entzogen worden. An das englische Mu- 
ster hat sich die Verf der Vereinigten Staaten von 
Nordamerika von 1787 angelehnt. Während das 
englische Recht ausgeht von den korporativen 
Rechten des Hauses, hat sich die kontinentale Ent- 
wickelung an das französische Muster der Privi- 
legierung des einzelnen Mitglieds angeschlossen 
(Hubrich 43 f). In Frankreich ist die Rede- 
freiheit der Repräsentanten aus den Ideen der 
Gewaltenteilung, die eine Unterstellung der Or- 
gane der Gesetzgebung unter die Justiz verbot, und 
der Volkssouveränität, die die Repräsentanten an 
der Heiligkeit und Unverletzlichkeit des Souveräns 
teilnehmen ließ, erwachsen. Schon in den cahiers 
der Generalstände gefordert, ist das Prinzip durch 
die Resolution v. 23. 9. 1789 und die Verf v. 3. 9. 
1791 festgelegt worden. Die Charte von 1814 
erkannte indirekt den Grundsatz an, und das G 
v. 17. 5. 1819 bestätigte ihn ausdrücklich. Seitdem 
ist er unerschüttert geblieben und in das VerfG 
v. 16. 7. 1875 als a 13 ausgenommen worden, 
der mit dem a 44 der belgischen Konstitution v. 
7. 2. 1831 übereinstimmt. 
In Deutschland (Hubrich 142 ff) wurde den 
Landständen, auch in der Zeit des Niedergangs 
seit dem 17. Jahrhundert, grundsätzlich eine ge- 
wisse Freiheit der landständischen Stimme zuge- 
billigt und durch Kaiser und Reichsgerichte ge- 
schützt. Aber diese Freiheit fand formell ihre 
Grenze in der streng betonten Untertanenpflicht 
gegenüber dem Landesherrn, und sachlich in der, 
unter Bestreitung des repräsentativen Charakters, 
immer mehr eingeengten Berufsaufgabe der 
Stände. Sie bedeutete im wesentlichen nur den 
Schutz gegen willkürliches Zugreifen des Landes- 
herrn bei mißliebigen Aeußerungen, keineswegs 
aber eine Exemtion von der ordentlichen Justiz 
bei strafbaren Handlungen. Demgegenüber knüpf- 
ten die nach dem Sturze Napolcons in Deutsch- 
land mächtig hervortretenden Ideen der Repräsen- 
tativ Verf an die französischen Vorbilder an. Volle 
Freiheit der Reden und Abstimmungen galt als 
ein unbedingtes Erfordernis der Volksvertretung. 
Sie wurde zunächst nur in Bayern (Verf v. 26. 5. 
1818 Tit. 7 53 27) gewährt, mit dem Korrelat einer 
besonderen durch die Kammer zu übenden Dis- 
ziplin, während in den anderen konstitutionellen 
Verf der Mittel= und Kleinstaaten die Immunität 
in enge Schranken gebannt war. Die Reaktions- 
zeit brachte weitere Einschränkungen, deren Rich- 
tung § 59 der Wiener Schluß-Akte von 1820 an- 
gab. Volle Redefreiheit gewährte die RV. von 
1849 und die preußische Verf v. 31. 1. 1850. 
Unzweideutigen Ausdruck fand endlich das Prin- 
zip in a 30 der Verf des Nordd. Bundes und 
des Reichs. Und durch § 11 Sten ist dieser 
reichsrechtliche Schutz der Freiheit parlamen- 
tarischer Meinungsäußerung auf die LT und K 
der Einzelstaaten ausgedehnt worden. Damit 
  
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sind die zum Teil noch damals bestehenden er- 
heblichen landesrechtlichen Einschränkungen, z. B. 
in Sachsen, beseitigt worden. 
b) Der Inhalt. Die Freiheit der Mei- 
nungsäußerung der RMitglieder beruht auf 
a 30 RV. „Kein Mitglied des RT darf zu irgend 
einer Zeit wegen seiner Abstimmung oder wegen 
der in Ausübung seines Berufs getanen Acuße- 
rungen gerichtlich oder disziplinarisch verfolgt oder 
sonst außerhalb der Versammlung zur Verant- 
wortung gezogen werden“; für die LTMitglieder 
(einschließlich der Bürgerschaften der freien Städte, 
vogl. Frank, Kommentar zum StE# B 39) auf 
z 11 des StGB. „Kein Mitglied eines LT oder 
einer K eines zum Reich gehörigen Staates darf 
außerhalb der Versammlung, zu welcher das Mit- 
glied gehört, wegen seiner Abstimmung, oder we- 
gen der in Ausübung seines Berufes getanen 
Aeußerung zur Verantwortung gezogen werden.“ 
Trotz des verschiedenen Wortlauts haben beide ge- 
setzliche Bestimmungen nach der herrschenden An- 
sicht dieselbe materielle Tragweite. 
a) Der geschützte Personenkreis. 
Den Schutz genießen die Mitglieder des RT und 
der K der L, auch solche, deren Wahl angefochten 
ist, bis zur Ungültigkeitserklärung (z. B. § 8 der 
Gesch O des RT). Eingeschlossen sind die Bürger- 
schaften der Hansastädte, sowie der Landesaus- 
schuß in Elsaß-Lothringen (a 17 des Ec z. SteB 
f. Elsaß-Lothr. v. 30. 8. 71), ebenso, unbeschadet 
seiner altlandständischen Eigenart, der mecklen- 
burgische LT. Ausgeschlossen sind in der Volks- 
vertretung sprechende Reg Vertreter, wie Mitglie- 
der des Bundesrats, Minister, Regierungskom- 
missarien usw. Wo die Minister, wie das z. B. in 
Preußen möglich ist, zugleich Volksvertreter sein 
können, wird für die Geltung des Privilegs die 
Eigenschaft, in der sie die Aeußerung taten, ent- 
scheiden müssen. An dem Privileg des &J 11 StGB 
nehmen nur die Mitglieder der staatlichen Volks- 
vertretungen, nicht auch die der kommunalen 
„Landtage“ teil. 
5) Der sachliche Bercich des Schutzes. 
Geschützt sind „Abstimmungen“ und „in Ausübung 
des Berufs getane Aeußerungen“. Die Tatbe- 
standsmerkmale der beruflichen Aeußerungen wer- 
den durch den parlamentarischen Brauch und die 
auf Verf, Gesetz oder Gesch O beruhenden Ein- 
richtungen der betr. K bestimmt; sie können also 
auch von Haus zu Haus verschieden sein. Als 
Aeußerungen gelten nicht nur Worte, sondern auch 
konkludente Handlungen, soweit dadurch Mei- 
nungen in der Form parlamentarischer Betätigung 
zum Ausdruck gebracht werden sollen, also natür- 
lich nicht ordnungswidrige Gewalttätigkeiten gegen 
Personen oder Sachen. Die Bezeichnung „Aeuße- 
rungen"“ in a 30 RV und § 11 StEGB wurde ge- 
wählt, um eine einengende Interpretation, wie 
sie auf das Wort „Meinungen“ in a 84 der Pr 
Verf gestützt, das preußische Okr durch Beschl v. 
20. 1. 66 im Fall Twesten versucht hatte, unmöglich 
zu machen (ogl. Rönne-Zorn 1,371ff. Hub- 
rich 276 ff). Also nicht nur die „Resultate des 
Denkvermögens“, sondern auch die „Behauptung 
und das Verbreiten von Tatsachen“, selbst wenn 
diese als Verleumdungen gekennzcichnet werden 
können, sind durch die genannten Vorschriften 
gegen Strafverfolgung gesichert. Gleichgültig ist 
es, wo diese Aeußerungen in Ausübung des Be-
	        
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