Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Erster Band. A bis F. (1)

  
Bedingte Begnadigung 
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Strafe oder ihre Umwandlung in eine andere 
Strafart (Hauptfall: Umwandlung der Gefäng- 
nisstrafe in Geldstrafe) bewirkt, ist die b. B. wenig- 
stens gewissen Personenklassen gegenüber und unter 
besonderen Voraussetzungen (s. § 3) die Regel ge- 
worden und bedeutet sie, falls sich der Verurteilte 
während der Probefrist bewährt hat, mit verschwin- 
denden Ausnahmen den gänzlichen Erlaß der Strafe. 
§s# 2. Geschichtliches: Zusammenhang mit der 
Fürsorgeerziehung. Der Gedanke der b. B. taucht 
in Preußen zuerst in Verbindung mit dem Zwangs- 
erziehungs= (Fürsorgeerziehung-)Wesen (1825, 
1847) auf und auch heute noch besteht neben der 
eigentlichen b. B. eine Strafaussetzung mit Rück- 
sicht auf eine eingeleitete Fürsorgcerziehung unter 
Vorbehalt künftigen Straferlasses bei guter Füh- 
rung des Fürsorgezöglings. Der Schwerpunkt 
der bezüglichen A#f vom 16. 9. 82 (IM Bl 288) 
und 1. 9. 09 (JIM#I 259) liegt darin, daß eine 
Gefährdung des Erfolges der Erziehung (meist 
Anstaltserziehung) durch die Vollstreckung gericht- 
lich verhängter Freiheitsstrafen während der 
Dauer der Fürsorgeerziehung vermieden wer- 
den soll. Die Vollstreckungsbehörde hat in 
jedeim Falle zu prüfen, ob die Aussetzung der 
Strafe mit Aussicht auf künftige B. als die für den 
Verurteilten günstigere Maßregel zu erwirken ist 
oder nur die Aussetzung der Strafe mit Rücksicht 
auf die schwebende Fürsorgeerziehung, ohne daß 
dem Verurteilten ein künftiger Gnadenerweis in 
Aussicht gestellt wird; wenn auch nach Ablauf der 
Fürsorgeerziehung im Falle guter Führung tatsäch- 
lich die Strafe im Gnadenwege erlassen zu werden 
pflegt, mithin im praktischen Enderfolge ein Unter- 
schied zwischen beiden Arten der Strafaussetzung 
nicht besteht. [UFürsorgeerziehung.] 
Die eigentliche b. B. ist erwachsen aus dem 
Kampf gegen die namentlich dem Jugendlichen 
gegenüber als unzureichend, ja verderblich emp- 
fundene kurzzeitige Freiheitsstrafe und aus dem 
Bedürfnis eines Ersatzmittels dafür. Mit diesem 
negativen Momente verband sich der positive Ge- 
danke einer Motivierung des Verurteilten zum 
Wohlverhalten durch die — als Damoklesschwert 
gedachte — Aussicht auf Vollzug oder Erlaß der 
Strafe. Während hieraus im Auslande überwie- 
gend die gesetzlich eingeführte bedingte Verurteilung 
d. h. die durch gerichtlichen Spruch erfolgen de Aus- 
setzung der Strafvollstreckung oder auch des Strafur-- 
teils mit dem nach Ablauf der Bewährungefrist 
von Rechts wegen eintretenden Straferlaß hervor- 
ging, führte der in Deutschland auf dem Boden 
der Vergeltungsidee erwachsene Widerstand gegen 
die „richterliche Begnadigung" zu der Kompromiß- 
sorm der im Wege der Verordnung in den dent- 
chen Bundesstaaten mit Ausnahme von Mecklen- 
burg-Strelitz, Reuß ä. L. und Reuß j. L. 1895 und 
1896 eingeführten, in ihren Grundzügen bereits 
oben gekennzeichneten b. B. (Sachsen 25. 3. 95, 
Hessen 29. 6. 95, Preußen AE v. 23. 10. 1895, — 
Il Bl 348 — Bayern 15. 0. 96, Württemberg 
24. 2. 96.) 
#3. Gestaltung und Voraussetzungen der be- 
dingten Begnadigung im einzelnen. Der den Vor- 
schriften über den „bedingten Strafaufschub“ — 
dieser von den Denkschriften des Reichs-Justiz- 
amts gebrauchte Ausdruck entspricht der Sache 
mehr als der landläufige Name „bedingte Begna- 
digung“ — in den beteiligten Bundesstaaten 
v. Stengel-Fleischmann, Wörterbuch 2. Aufl. I. 
  
gemeinsame Grundgedanke ist in der zur Ausfüh- 
rung des AE v. 23. 10. 95 erlassenen Rundverfü- 
gung des Preuß. Justizministers v. 19. 11.195 und 
12.4.06 betreffend die Handhabung der b. B. dahin 
ausgedrückt, daß im allgemeinen der Wohltat desbe- 
dingten Strafaufschubes mit Aussicht auf künftige 
B. nur solche Verurteilte teilhaftig werden sollen, 
die nicht durch Verdorbenheit und 
verbrecherische Neigungen, son- 
dern mehr durch Leichtsinn, Unbe- 
sonnenheit, Unerfahrenheit oder 
infolge Verführung zu dem von ihnen 
begangenen Fehltritte veranlaßt sind (also im 
wesentlichen diejenigen Personen, welche die neue 
Strafrechtsschule als „Augenblicksdelinquenten“ 
den „Zustandeverbrechern“ gegenüberstellt), und 
zwar, sofern sie die Hoffnung auf künftiges Wohl- 
verhalten, insbesondere auch im Hinblick auf die 
Verhältnisse, in denen sie während der Probezeit 
zu leben haben werden, rechtfertigen. Entspre- 
chend der ursprünglichen Eigenschaft der b. B. 
als Surrogat der Freiheitsstrafe beschränkt sich 
die Maßregel überall auf Freiheitsstrasen, jedoch 
mit Einschluß derjenigen, welche an die Stelle 
einer nicht beizutreibenden Geldstrafe treten. 
Eine besondere Ueberwachung des Verurteilten 
während der Probezeit kennt die deutsche b. B. 
im Gegensatz zum amerikanisch-englischen Pro- 
bation-System nicht 1), wenn auch, insbesondere 
in Preußen, mitunter die privaten Fürsorge-Ver- 
eine von der Strafvollstreckungsbehörde angegan- 
gen werden, sich des jugendlichen Verurteilten 
während der Probezeit anzunehmen. Die deutsche 
b. B. befindet sich mit der Ablehnung einer eigent- 
lichen Ueberwachung in Uebereinstimmung mit der 
einschlägigen belgisch-französischen Gesetzgebung. 
Von dieser weicht sie auf der anderen Seite inso- 
feren ab, als sie nicht zum Maßstabe der Bewäh- 
rung während der Probefrist schablonenhaft den 
Umstand erhebt, ob der Verurteilte wiederum 
eine Verbrechens= oder Vergehensstrafe erlcidet, 
sondern ebenso wie das amerikanisch-englische 
System auf sein gesamtes Verhalten abstellt. In 
praxi spielen allerdings die Fälle, in denen die Ver- 
günstigung aus einem anderen Grunde als einer 
abermaligen Begehung eines Delikts entfällt, eine 
nur geringe Rolle. Im übrigen bestand und be- 
steht noch heute eine nicht unerhebliche Verschieden- 
heit in der Regelung der einzelnen Voraussetzun- 
gen für die Anwendung der b. B. Im Interesse 
einer gleichmäßigen Handhabung sind unter Ver- 
mittelung des RJ#zwischen den Reg der beteilig- 
ten Bundesstaaten folgende, seit dem 1. 1. 03 zur 
Anwendung gelangende Grundsätze, die, wie nicht 
zu verkennen, der einzelstaatlichen Regelung noch 
genug Spielraum lassen, vereinbart worden: 
1. Von dem bedingten Strafaufschube soll vor- 
zugsweise zu Gunsten solcher Verurteilten Ge- 
brauch gemacht werden, welche zur Zeit der Tat 
das 18. Lebensjahr nicht vollendet hatten. 2. Ge- 
genüber Personen, die früher bereits zu Freiheits- 
strafe verurteilt sind und die Strafe ganz oder teil- 
weise verbüßt haben, soll der bedingte Strafauf- 
schub nur in besonderen Fällen Platz greifen. 
1) Nur in Bremen (Verfügung des Senats vom 
7. 8. 00) hat vie Vollstreckungebehörde alljährlich von 
der Polizcibehörde des Aufenthaltsorts des Verurteilten 
Auskunft über dessen Führung einzuziehen. 
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