Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Erster Band. A bis F. (1)

  
Belagerungszustand 
unter Strafe stellen das Verbreiten von wissentlich 
falschen Gerüchten über Zahl, Marschrichtung, 
Siege des Feindes oder der Aufrührer, die Auf- 
forderung zur Uebertretung gewisser Anordnun- 
en des Militärbefehlshabers und zu gewissen 
Vergehen. Zulässig ist es, ausdrücklich die 
à 5 pr. VuU. (Gewährleistung der persönlichen 
Freiheit), 6 (Unverletzlichkeit der Wohnung, Be- 
schlagnahme von Briesen), 7 (Verbot von Aus- 
nahmegerichten), 27—30 (freie Meinungsäuße- 
rung, Vereins= und Versammlungsrecht), 36 (Ein- 
greifen der bewaffneten Macht zur Unterdrückung 
von Unruhen [I]I Waffengebrauchl) oder 
einzelne der Artikel zeit= und distriktsweise — 
würden außerpreußische Gebietsteile in B. er- 
klärt, die entsprechenden Artikel ihrer Verfassung 
— außer Kraft zu setzen (über die Tragweite 
Hänel S 437, 438). Wo Reichsrecht an die Stelle 
des Landesrechts getreten ist (StPO, MSt0O), 
besteht die Befugnis des Kaisers für dieses, insofern 
à 68 RV als lex specialis zu gelten hat. Darnach 
könnten z. B. Ausweisungen über die Schranken 
des Freizügigkeitsgesetzes hinaus erfolgen, die Zu- 
ständigkeit der Schwurgerichte in Preßsachen auf- 
gehoben oder die Zensur eingeführt werden. Der 
Kaiser könnte auch (§ 10) „Kriegsgerichte“ einsetzen, 
deren Zuständigkeit gesetzlich festliegt (Hochverrat, 
Landesverrat, Mord, Aufruhr usw.); sie sollen aus 5 
Mitgliedern bestehen, 2 richterlichen Zivilbeamten, 
von denen einer den Vorsitz führt, und 3 Offizieren 
von wenigstens Hauptmannsrang: Zuständigkeit 
und Besetzung werden jetzt aber auf Schwierig- 
keiten stoßen (vgl. Endres 555). Das Verfahren 
ist mündlich und öffentlich ohne Rechtsmittel. 
Todesurteile bedürfen der Bestätigung durch den 
Militärbefehlshaber. Die Vorschriften der St O 
und MStGO über Beschlagnahme, Durchsuchung 
und Untersuchungshaft finden keine Anwendung; 
denn sie gelten nur für diejenigen Strafsachen, die 
vor die ordentlichen Gerichte gehören (5 3 EGz. 
St PO). Dagegen bleibt die Immunität der Ab- 
eordneten unangetastet, da sie auf einer be- 
onderen Bestimmung der Verfassungsur- 
kunde (pr. Vu a 84, RV a 30, 31) neben den 
allgemeinen Schutzvorschriften beruht. Mit der 
Aufhebung des B. hört die Wirksamkeit der Kriegs- 
gerichte ohne weiteres auf (anders Frankreich). 
Wirkungen außerhalb des preuß. Gesetzes: statt- 
haft vorübergehende Einführung der Paspllicht 
durch den Kaiser (§59 R v. 12. 10. 67); Einberu- 
fusUng der Reserve und Landwehr durch den kom- 
mandierenden General (§ 8 RG v. 9. 11. 67). 
4) Der Streit, ob dem Reichstage über die Erklä- 
rung des B. Rechenschaft abzulegen ist (§ 17 pr. G), 
mag auf sich beruhen, da die Rechenschaft durch 
Interpellation wird herbeigeführt werden können. 
e)gPraxis: Der B. wurde verhängt am 16. 
7. 70 über den Kieler Hafen durch den Stations- 
chef; durch kaiserl. Erl v. 21. 7. 70 (RGM1 503) 
über die Bezirke des 1., 2., S., 9., 10., 11. Armee- 
lorps; aufgehoben durch V v. 27. 3. 71 (RGBl 
57); dazu der für die Ausleguung wichtige AE 
v. 22. 7. 70 (Abdruck bei Hahn, Krieg Deutsch- 
lands gegen Frankreich 1871, 407). 
2. Den sog. Kleinen Belagerungszu- 
stand (unten §3 3 B1) darf der Kaiser nicht verhän- 
gen. Die meist ebenso bezeichneten Maßnahmen 
aus §# 28 Sozialisten G v. 21. 10. 78 standen über- 
haupt nicht Reichsbehörden, sondern einzelstaat- 
  
  
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lichen Zentralbehörden mit Genehmigung des 
Bundesrats zu. 
5s 3. DTer Belagerungszustand in den Einzel- 
staaten außer Bayern kann durch den Kaiser an- 
geordnet werden, aber nicht nur durch den Kaiser. 
. Die Zulässigkeit. 
Die Frage ist äußerst bestritten. Die Theorie 
erklärt sich nach dem Vorgange von Laband und 
Hänel fast ausnahmslos (jedoch G. Meyer) gegen 
eine Fortdauer der Zuständigkeit der Gliedstaaten. 
Soweit eine Praxis vorliegt (Preußen), hat sie sich 
indes an die Satzungen der Einzelstaaten gehal- 
ten. An dem Zwiespalt der Meinungen auf einem 
für die Sicherheit des Staates so wesentlichen Ge- 
biete darf man nicht vorübergehen, wenn man nicht 
in ernster Stunde das Vorgehen der Staatsorgane 
durch Zweifel an seiner Rechtmäßigkeit lähmen 
will. Abgelehnt wird dic Berechtigung der Einzel- 
staaten aus einer doppelten Erwägung: a 68 RV 
sei Ausfluß der militärischen Oberbefehls, in den 
die Staaten nicht eingreifen dürften — der Inhalt 
der staatlichen Gesetze würde zu einer eigenmäch-= 
tigen Aenderung der Militärverfassung und andrer 
Reichsgesetze führen. So richtig diese Annahmen 
grundsätzlich sind, so würden doch die Einzelheiten 
der staatlichen Gesetze nur insoweit dem Reichs- 
rechte weichen, als sie mit diesem unvereinbar sind. 
Die Versügung des B. ist keine Maßnahme des 
„Oberbefehls“. Aus der Anfügung des a 68 R 
zu dem Xl. Abschnitt der RV. „Reichskriegs- 
wesen“ entgegengesetzte Schlüsse zu ziehen, ist 
bei der Systematik der RV gewagt; der Abschnitt 
enthält auch gar nicht ausschließlich Vorschriften 
über den Oberbefehl: gerade a 68 ist durch Vor- 
schriften, die nicht unmittelbar den Oberbefehl 
betreffen, à 66 und 67 (Rechte der Bundesfürsten, 
Ersparnisse am Militäretat) abgetrennt. Schließ- 
lich zeigt a 66 Abs. 2 RV, daß die R seldbst die 
Heranziehung von Truppen durch Machthaber des 
Einzelstaats nicht als im Widerstreit mit dem kaiser- 
lichen Oberbefehl ansieht: es wird die „Verwen- 
dung" der „eigenen“ Truppen als selbstverständ- 
lich erwähnt und darüber hinaus noch sogar die 
„Requisition aller andern Truppenteile" in ihrem 
Ländergebiete eingeräumt. 
Die Handhabung der Sicherheitspolizei ist nun 
an sich den Einzelstaaten verblieben. Bei der Be- 
deutung aber, die die Regierungen den außeror- 
dentlichen Vollmachten, wie aus den Verhand- 
lungen bei ihrer Festlegung ersichtlich ist, beimes- 
sen, kann nicht unterstellt werden, daß sie sich still- 
schweigend und restlos durch Schaffung des erst 
halb fertigen a 68 RV aus dem eigenen Macht- 
besitze hätten setzen lassen wollen. Der Eintritt in 
das Reich wurde vielmehr auch in dieser Hinsicht 
zu einer Verstärkung der Sicherheit, die ihre An- 
sätze übrigens schon im Deutschen Bunde zeigt, 
wo dem Oberbefehlsbaber das Recht beigelegt 
wurde, das „Martialgesetz“ selbst in den Einzel- 
staaten zu verkünden (§ 96 Kriegsverfassung). 
Daß diese Verstärkung durch Hereinziehung der 
militärischen Machtmittel geschieht, benimmt ihr 
nicht den polizeilichen Charakter, sondern bewirkt 
nur, wenn man so sagen will, eine Kompetenz- 
union in dem Oberbefehlshaber. Zumal in Preu- 
ßen ist deshalb der B. gar nicht im Anschlusse an 
den Oberbefehl des Landesherrn in der Vl er- 
wähnt, und es ist hier wie anderwärts regelmäßig 
sogar eine Instanz mit der Anordnung betraut
	        
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