Bettel- und Wanderwesen — Bewässerungen und Entwässerungen
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ungeachtet nicht vermocht habe. Diese Strafvor-
schrift ist ebenso unzureichend wie die übrigen. Sie
ist sogar in sich widersinnig, weil eben derjenige,
der mittellos ist, sich ein Unterkommen nicht schaffen
kann und unterstützt werden muß. Ist er aber
im Stande, sich durch eigene Arbeit zu erhalten,
so ist die Nichtbeschaffung eines Unterkommens
nur ein Symptom seiner Neigung zum Müßig-
gange und eine andere Form des B oder Land-
streichens, die als solche strafbar sind. Tatsächlich
ist die Strafvorschrift aus § 361, 8 ebenso wie die
für Betteln und Landstreichen so lange von gerin-
ger Bedeutung, als nicht durch die Anflege Ein-
richtungen getroffen sind, die dem Mangel an
Obdach durch positive Fürsorgemaßregeln begegnen
oder sich Vorkehrungen treffen lassen, die den Ar-
beitswilligen von dem Arbeitsscheuen unterschei-
den. Es wird daher auch für diese Kategorie eine
individualisierende Behandlung gefordert, die den
Zustand des Bedürftigen erkennen läßt, wobei dann
die wirklich Arbeitsunfähigen, von denen eine sehr
roße Zahl die Asyle füllt, einer dauernden Für-
rorge überwiesen werden; diejenigen, die wirklich
arbeitswillig sind, in hinreichender Weise unter-
stützt werden bis sie Arbeit gefunden haben; und
endlich die Arbeitsscheuen der Bestrafung zuge-
führt werden. Um dies unterscheiden zu können,
bedarf freilich auch die Großstadt ähnlicher Ein-
richtungen, wie sie für das Land durch die Errich-
tung von Würtbeitsstätten und Arbeiterkolonien
egeben sind, sodaß als Entgelt des Nachtquartiers
rbeit geleistet werden muß und deren Verweige-
rung als Arbeitsscheu qualifiziert werden kann.
Die Frage ist praktisch sehr schwierig zu lösen,
weil es sich um eine so sehr große Zahl von
Obdachlosen handelt, für die Arbeit bereit zu
stellen fast unmöglich ist. Es wird freilich darauf
hingewiesen, daß die Nötigung zur Arbeitsleistung
sehr viele davon abhalten würde, das Obdach in
Anspruch zu nehmen. Doch würde in großstädti-
schen Verwaltungen, namentlich in Berlin, das
Vermeiden des Oddachs voraussichtlich nicht zur
Folge haben, daß die arbeitsscheuen Obdachlosen
nunmehr sich selbst Arbeit und Obdach suchen oder
die Stadt verlassen; es ist vielmehr höchst wahr-
scheinlich, daß sie in größerer Zahl sich in strafbarer
Weise Mittel verschaffen und die nächtliche Sicher-
heit der Bevölkerung sehr stark gefährden würden.
Man hat hier eben, wie so oft in der APflege, nicht
zwischen zwei nützlichen Maßregeln, sondern nur
zwischen zwei Uebeln zu wählen und muß unter
Umständen das kleinere Uebel in den Kauf nehmen.
Auch hier erhellt aber, daß dic Gesetzgebung gänz-
lich fehlgegangen ist, wenn sie dem Uebel durch
die Strafvorschriften des & 361 beikommen will.
Es muß eben zwischen arbeitswilligen und arbeits-
scheuen Elementen geschieden werden, jenen eine
angemessene Hilfe zuteil werden, während diese
mit allem Nachdruck und mit den schärfsten Maß-
regeln und Strafen zur Arbeit angehalten oder
dauernd unschädlich gemacht werden müssen.
In Berlin betrug nach einer Veröffentlichung
des Statistischen Amts der Stadt Berlin die Zahl
der wegen B Verurteilten in den Jahren 1904 und
1905: 7968 und 6879, die Zahl der bestraften Ob-
dachlosen 3269 und 5030. Daß diese Verurteilun-
gen wegen Obdachlosigkeit an Zahl geringer sind,
hängt damit zusammen, daß B leichter zu erweisen
ist als schuldhafte Obdachlosigkeit.
.
Litera tur: R. v. Hippel, Die strafrechtliche Be-
kämpfung von B, Landstreicherei und Arbeitsscheu, 1895;
°B, Landstreicherei und Arbeitsscheu i. d. Vergl. Darstellung
d. deutschen u. ousl. Strafrechts, 1906. Das erste Werk
enthält neben der dogmatischen Behandlung eine Uebersicht
über die Zustände der deutschen Arbeitshäuser, während die
zweite Arbeit eine vollständige Darstellung des Gegenstandes
einschließlich der Zustände im Auslande gibt. Puppe, Die
Erwerbsfähigkeit der Bettler und Bagabunden, Vierteljahrs.
schrift f. gerichtl. Medizin u. öff. Sanitätswesen, 3. Folge
XXXV. Euppl.-Heft S157—162. 1908; Mörchen, Wan-
dernde Arbeitslose. IV. Versamml. d. Berb. deutsch. Arbeits.
nachw., Nov. 1905; Ostwald, Die Bekämpfung der Land-
streicherei, 1903; Mörchen, Die Wilrmen und der 428
des UW G. Schriften d. D. B. f. A. u. W. H. 57, 1902;
Troschke, Würbeitsstätten in der Prov. Brandenburg
(Geschichte, Organisation, Betrieb). Denkschr. d. Brandenb.
Herbergsverbandes, 1908e; Olshausen, Zur Frage des
Bettel- und Landstreicherwesens, 8 f. d. AW. 1906, Heft
12 S353 ff; Münsterberg, Zur Theorie und Geschichte
des Bettel- und Landstreicherwesens, 8 f. d. AW. 1903 Nr.
11 S321 ff; Fürf. f. W., ebenda 1910 H. 524 Der Wan-
derer, In Berb. mit d. Zentralvorstand deutscher Arbeiter-
kolonien u. d. Gesamtverband deutsch. Berpfleg. Stat. heraus-
gegeben v. Deutschen Herbergsverein; Protokolle der
Sitzungen des Zentralvorstandes Deutscher Ar-
beiterkolonien; Protokolle der Versammlungen
des Gesamtverbandes deutscher Verpfle-
gungsstationen (Würtbeitsstätten)z: Lange, v.
Reitzenstein, Die Fürsorge f. Obdachlose; Münster-
berg, v. Massow, Die Fürsorge für Obdachlose in den
Städten, Schriften d. D. B. f. A. u. W. H. 16 u. 22, 1893
u. 1895; 25 Jahreunter Obdachlosen, Festschrift
3. 25jähr. Bestehen d. Vereins Dienst an Arbeitslosen, 1907.
Mauve u. v. Gröning, Wanderarbeitsstättengesetz, 1909.
Münsterberg.
Bewässerungen und Entwässerungen
# 1. Grundzüge der neueren Gesetzgebung. 1 2. Die
Vornahme von Entwässerungen und Bewässerungen.
6 3. Einschränkungen im öffentlichen Interesse. 34, 5. Ver-
hältnis der Entwässerungs= und Bewässerungsunterneh-
mungen zu Privatrechten dritter Personen. 7§§ 6, 7. Ver-
fahren in Entwässerungs= und Bewässerungsangelegen-
heiten.
[WG Wassergesetzl
# 1. Einleitung. Grundzüge der neueren
Gesetzgebung. Die zunehmende Intensität des
landwirtschaftlichen Betriebs und die dichter wer-
dende Besiedelung haben seit dem vorigen Jahr-
hundert zu einer öffentlich-rechtlichen Regelung
des Wasserrechts geführt, deren Ziel dahin geht,
die Vornahme von Ent= und Bewässerungen im
Interesse der Landeskultur zu erleichtern und zu
begünstigen. Die Entwässerung gehört an sich
dem Gebiete des Wasserschutzes, die Bewässerung
dem Gebiete der Wassernutzung an. Indessen
wird mit Recht von der neueren Gesetzgebung
(Bayern, Württemberg, Sachsen, Baden, Hessen,
Elsaß-Lothringen), abweichend von der älteren
preußischen, die Ent= und Bewässerung nach ein-
heitlichen Grundsätzen behandelt, da beide wirt-
schaftlich eng zusammenhängen und eine geregelte
Wasserversorgung des Bodens oft gleichzeitig An-
stalten für die Zuführung und solche für die Ab-