Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Erster Band. A bis F. (1)

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Blindenwesen 
  
K. ..— — — e — — 
— — — — 
teren Jahren die Körnerkrankheit (Granulose oder 
Trachom), ferner die Skrophulose (im jugendlichen 
Alter) und das Trauma bei gewerblichen Arbeitern, 
die infolge ihres Berufes (Schlosser, Schmiede, 
Dreher, Hobler, Arbeiter an Hochöfen, Bergleute, 
Maurer, Steinbrucharbeiter usw.) Augenverletzun- 
gen besonders ausgesetzt sind. Außerdem sind 
manche Erblindungen auf akute Infektions- 
krankheiten (Pocken, Scharlach, Diphtherie, Ma- 
sern, Typhus, epidemische Genickstarre usw.), auf 
Syphilis und Tuberkulose sowie auf Nieren-, 
Hirn= und andere Krankheiten zurückzuführen. 
Alle hierdurch erworbenen Erblindungen gehören. 
mehr oder weniger zu den vermeidbaren; 
sie werden von kompetenten Autoren auf 50% 
sämtlicher Fälle geschätzt. Mit Recht hat man da- 
her, namentlich in den letzten Jahrzehnten, die 
Entstehungsursachen zu bekämpfen gesucht und in 
dieser Hinsicht auch höchst erfreuliche Erfolge erzielt. 
Durch die im Deutschen Reiche eingeführte obli- 
gatorische Schutzpockenimpfung sind z. B. die 
Pocken als Ursache der Erblindung völlig beseitigt. 
Die allgemeine Einführung der sogenannten 
Credéschen Einträufelungen (1—2% Höllenstein- 
lösung) in die Augen neugeborener Kinder, deren 
Mütter an eitrigem Scheidenausfluß leiden, die 
systematische Bekämpfung der Granulose in den 
davon hauptsächlich heimgesuchten östlichen Pro- 
vinzen Preußens, die Einführung entsprechender 
Unfallverhütungsvorschriften und Schutzmaßregeln 
(Schutzbrillen) usw. für die gewerblichen Arbeiter 
haben in dieser Hinsicht äußerst segensreich gewirkt. 
Nach den Ergebnissen der Volkszählung in den 
Jahren 1871 und 1905 ist z. B. die Zahl der Blin- 
den, auf 10 000 Einwohner berechnet, gesunken 
im Deutschen Reich von 8,8 auf 6,11) 
in Preußen „ 9,3 „ 8,6 
„ Bayern „ 838,2 „ 5,5 
„ Sachsen „ 8,0 „ 6.5 
„ Württemberg 7,0 „ 6,0 
„ Elsaß-Lothringen „ 8,7 „ 5,8 
Daraus ergibt sich für Deutschland eine Abnahme 
von 30 0% „dbie sich in Preußen sogar auf 40 stellt. 
Diese Abnahme macht sich auch bei den einzelnen 
Altersklassen bemerkbar; denn nach den Volkszäh- 
lungen von 1880 und 1905 entfielen z. B. in Preu- 
ßen auf je 10 000 Lebende Blinde im Alter 
1880 1905 
bis 5 Jahren 1,3 m. 1,2 w. 0,8 m. 0,7 w. 
von 5—10 „ 2,0 „ 1,7 „ 1,4 „ 1,0 „ 
„ 10—15 „ 3,2 „ 3,0 „ 24 „ 1,8 „, 
15—20 „ 4,1 „„ 3,1 „ 3,1 „„ 2,1 „ 
„ 20—30 „ 4,5 „ 3,5 3,3 „ 2,3 „ 
„ 30—%0 „ 6,9 „ 5,4 „ 4,.5 „ 3,4 „ 
n 40—50 % 10,6 ½ 4,7 8,3 L w 
„ 50—60 „ 17,8 „ 15,7 „ 12,, „ 9,0 „ 
„ 60—70 „ 30,1 „„ 29,2 „ 21.5 „ 18.3 „, 
über 70 „ 76,5 „ 83,0 „ 54,6 „ 55,9 „ 
Das männliche Geschlecht weist also stets ein 
höhere Erblindungsziffer auf als das weibliche, 
die auf die Gefahren der Berufstätigkeit zurückzu- 
führen ist und sich deshalb besonders in den Alters- 
  
  
1) Das Deutsche Reich steht übrigens in Bezug auf die 
Zahl der Blinden anderen Kulturstaaten gegenüber verhält- 
nismäßig günstig da. So beträgt biese (auf 10 000 Lebende 
berechnet) z. B. in England 7,9, in der Schweiz 7,2, in 
Belgien 7,3, in Frankreich 7,1, in Italien 8,1, in Norwegen 
",3, in den Vereinigten Staaten Nordamerikas 8,5. 
  
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klassen von 20—60 Jahren bemerkbar macht, wäh- 
rend sich in den Altersklassen über 70 Jahre das 
Verhältnis umgekehrt stellt. Verhältnismäßig am 
meisten ist die erworbene Blindheit in den östlichen 
preußischen Provinzen (infolge der hier herrschen- 
den Körnerkrankheit und des Mangels an Aerzten 
und Hebammen) und in den industriellen Bezirken 
Rheinlands und Westfalens verbreitet; hier ist des- 
halb auch die Prozentziffer der männlichen Blinden 
besonders hoch, während in den erstgenannten Be- 
zirken die weiblichen Blinden überwiegen. 
Diese Abnahme der Erblindungsziffer ist nicht 
zum kleinsten Teile den Fortschritten der medizi- 
nischen Wissenschaft und der besseren augenärzt- 
lichen Ausbildung der Aerzte zu verdanken; das- 
selbe gilt betreffs der besseren Ausbildung der Heb- 
ammen, der Hebung des allgemeinen Wohlstandes 
und der dadurch veranlaßten rechtzeitigeren In- 
anspruchnahme ärztlicher Hilfe als früher. Die 
Erfolge würden voraussichtlich noch größer sein, 
wenn nicht in den unteren Volksschichten noch 
immer, wenigstens in den ärmeren Gegenden, 
eine unbegreifliche Gleichgültigkeit gegen Augen- 
erkrankungen und die Vorliebe herrschte, Kur- 
pfuscher in solchen Fällen zu Rate zu ziehen. Be- 
reitstellung ärztlicher Hilfe und Bekämpfung der 
Kurpfuscherei sind somit zwei wichtige Mittel zur 
Verhütung der Blindheit. 
s#3, Blindenfürsorge. Blinden-Erziehungs= 
und Unterrichtsanstalten und Blindenheime. 
I. Während im Altertum die Blinden vielfach be- 
sonders geehrt wurden, war ihr Los im Mittel- 
alter bis in die Neuzeit ein wenig beneidenswertes. 
Mit dem Begriff „blind“ war fast immer der des 
Bettelns verbunden; der Blinde war gleichsam 
auf die Almosen seiner Mitmenschen angewiesen 
und wurde leider nur zu oft von seinen Angehörigen 
oder gewissenlosen Unternehmern benutzt, um 
durch ihn das Mitleid der Menschen nutzbar zu 
machen. Die ersten Anfänge einer Blinden- 
fürsorge gehen zwar zurück bis in das Jahr 
1210, in dem Ludwig der Heilige von Frankreich 
in Paris das Hospice des Quinze-Vingts gründete, 
das 300 Blinden Aufnahme und Versorgung ge- 
währte, desgleichen wurde 1331 in London ein 
ähnliches Blindenhospital, das Elsing-Spital, aus 
Stiftungsmitteln gegründet; aber die Versuche 
einer plan= und zweckmäßigen Ausbildung Blinder 
sind weit jüngeren Datums; nur in China hat man 
schon vor Jahrtausenden in besonderen Instituten 
für eine solche Sorge getragen. Das Verdienst, 
die Errichtung von Erziehungs= und Unter- 
richtsanstalten für Blinde zuerst erfolgreich an- 
geregt zu haben, gebührt dem bekannten Philanthro= 
pen Valentin Haüy, Schreiblehrer in Paris, der 
hierzu z. T. veranlaßt wurde durch sein im Jahre 
1780 erfolgtes Bekanntwerden mit der berühmten 
Blinden Therese v. Paradies aus Wien, die es 
dank der Fürsorge einsichtsvoller Eltern, dank eige- 
ner großer Begabung und dank vorzüglicher, wenn 
auch nicht eigentlich fachmännischer Lehrer zu 
einer höchst achtungswerten allgemeinen Bildung 
und zu einem Weltruf als Sängerin und Orgel- 
spiclerin gebracht hatte. Sie machte Haüy mit 
den von ihr zum Unterricht benutzten Hilfsmitteln 
bekannt und ihn auch auf den Lehrer Christian 
Nielsen (gest. 1784) in Mannheim aufmerk- 
sam, der einen anderen Blinden bereits mit bestem 
Erfolg unterrichtet hatte. Auf Grund der so er-
	        
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