Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Erster Band. A bis F. (1)

Bremen 
— die Bürgerschaft auf und veranlaßte auf Grund 
einer provisorischen Wahlordnung die Neuwahl 
einer Bürgerschaft, mit der er die noch heute gel- 
tende Verf v. 21. 2. 54 feststellte. 
Die Verfassung, datiert v. 21. 2. 54, 
gilt heute in der Redaktion v. 1. 1. 94. Die V. 
enthält nur die Grundzüge der Organisation; die 
Einzelheiten geben die 7 gleichzeitig mit ihr publi- 
zierten Ergänzungsgesetze, betreffend 1. den Senat, 
2. die Bürgerschaft, 3. die Deputationen, 4. die 
Erledigung von Meinungsverschiedenheiten zwi- 
schen Senat und Bürgerschaft, 5. die Handels- 
kammer, 6. die Gewerbekammer (ietzt G v. 27. 
4. 06), 7. die Kammer für Landwirtschaft. 
2. Grundzüge der Verfassung. In den 
Verfinrichtungen spricht sich der Charakter des 
Stadtstaates, in dem auch heute noch die Stadt B. 
mit ihren ca. 227500 Einwohnern die Haupt- 
bedeutung hat, und der Charakter der Handels- 
stadt mit ihren vorwiegend wirtschaftlichen Auf- 
gaben und Interessen an Handel und Schiffahrt 
aus. Die Verf zeigt die republikanische Staats- 
form, wie sie sich in der kollegialen Rats Verf der 
deutschen Städte ausgebildet hatte. Die höchste 
Staatsgewalt wird von Senat und Bür- 
gerschaft gemeinschaftlich ausgeübt (Verf 
5§ 3); ihrer beider Wille, ausgesprochen im über- 
einstimmenden Beschluß beider Kollegien, ist der 
höchste Wille im Staat. Dieser oberste Verf Grund- 
satz findet dann im einzelnen seine Ausgestaltung, 
einerseits in der Richtung, daß beide Organe 
gleichberechtigt und unabhängig voneinander ge- 
stellt sind, andrerseits darin, daß grundsätzlich und 
im Zweifel alle Staatsaufgaben zum gemein- 
schaftlichen Wirkungskreis beider höchsten Organe 
gehören (Verf § 56). Die Bürgerschaft ist nicht 
nur beschränkender Faktor der Regierung bei der 
Gesetzgebung, sie wirkt auch bei der Verwaltung 
des Staats mit dem Senat zusammen in den ge- 
meinschaftlichen Ausschüssen, den Deputa- 
tionen. Die Verwaltung des Staates ist als 
Selbstverwaltung ausgestaltet: überall sind die 
Bürger zur Mitarbeit an den staatlichen Ge- 
schäften herangezogen. In dieser weitgehenden 
Selbstverwaltung durch die Deputationen, die an 
der Spitze der einzelnen Verw Zweige selbständig, 
nur ihren beiden Kommittenten, Senat und Bür- 
gerschaft untergeordnet, die Verw Geschäfte be- 
sorgen, liegt die Eigentümlichkeit der Bremischen 
Staatsorganisation und eine befruchtende Le- 
bensquelle für das Staatswesen. 
§+l 3. Bürgerrecht. Die politische Berechtigung 
im Staat ist von der Leistung des Staatsbürger- 
eides abhängig gemacht (Formel im G v. 12. 6. 
89). Jeder männliche volljährige Staatsange- 
hörige ist zur Leistung zugelassen; ein Zensus ist 
nicht vorgeschrieben; eine Registraturgebühr von 
16,50 Mk. ist zu zahlen (G v. 27. 6. 72). Die 
früher bestehende Verpflichtung der Bremischen 
Staatsangehörigen zur Leistung des Staats- 
bürgereides ist durch G v. 26. 2. 04 im allgemeinen 
aufgehoben; sie besteht nur noch für staatliche und 
städtische Beamte, Geistliche, Rechtsanwälte und 
Notare. Die Leistung des Staatsbürgereides ist 
u. a. Voraussetzung für das aktive und passive 
Wahlrecht zur Bürgerschaft, für die Wahl in den 
Senat, für die Mitgliedschaft des Kaufmanns- 
konventes, des Gewerbekonventes, der Kammer 
für Landwirtschaft. 
  
  
  
Aus den von der Verf (5 9 ff) zusammenge- 
stellten „Rechten der Bremischen Staatsgenossen“ 
ist als republikanische Eigenart die Bestimmung 
(§ 17) hervorzuheben: „Der Staat erkennt bei 
seinen Angehörigen keinen Adel an“. Demzufolge 
wird im amtlichen Sprachgebrauch gegenüber den 
Staatsangehörigen das Adelsprädikat fortgelassen. 
#*s 4k0 Der Senat. I. Zusammensetzung: 
Der Senat besteht aus 16 Mitgliedern, von denen 
wenigstens 10 Rechtsgelehrte und wenigstens 3 
Kaufleute sein müssen; während bis dahin bei den 
übrigen 3 Mitgliedern keine Standesbeschränkung 
bestand, ist durch Gesetz von 1909 bestimmt, daß 
sie dem Stande der Rechtsgelehrten nicht ange- 
hören dürfen (Verf § 21 in der Fassung des G 
v. 4. 11. 09 u. Go. 1. 6. 84). Wählbar in den Se- 
nat ist jeder über 30 Jahre alte Staatsbürger; 
nahe Verwandtschaft und Schwägerschaft mit 
einem Senatsmitglied schließen ebenso wie einzelne 
andere Gründe die Wählbarkeit aus (Verf 5# 23). 
Das Wahlverfahren ist kompliziert ge- 
regelt (G den Senat betr. K 1—18). Die Bürger- 
schaft teilt sich durch das Los in 5 gleiche Abtei- 
lungen, von denen jede 3 Kandidaten für die er- 
ledigte Stelle und ferner aus ihrer Mitte einen 
Wahlmann wählt. Ebenso wählt der Senat 5 
Wahlmänner aus seiner Mitte. Die 10 Wahl- 
männer haben aus den von der Bürgerschaft no- 
minierten Kandidaten mit absoluter Stimmen- 
mehrheit einen Wahlaufsatz von 3 Kandidaten zu 
bilden, wobei also die 5 Wahlmänner des Senats 
gegenüber der gleichen Zahl der bürgerschaftlichen 
Wahlmänner die Aufstellung eines dem Senat 
nicht genehmen Kandidaten verhindern können. 
Soweit eine Mehrheit für 3 Kandidaten sich nicht 
ergibt, wird das Verfahren wiederholt: die Bürger- 
schaft teilt sich wieder durch das Los in 5 Ab- 
teilungen u. s. f., bis durch Stimmenmehrheit der 
Wahlmänner ein Wahlaufsatz von 3 Kandidaten 
gebildet ist. Aus diesem nimmt die Bürgerschaft 
die definitive Wahl vor. Die Quintessenz dieses 
Verfahrens ist darnach: der Senat hat ein Veto, 
die Bürgerschaft den positiven Einfluß bei der 
Wahl, wobei allerdings der Wille ihrer Mehrheit 
sich keineswegs immer durchzusetzen vermag, da 
er infolge der Bildung der Abteilungen durch das 
Los bei der Vorwahl wesentlich beeinträchtigt 
werden kann. 
Eine Pflicht zur Annahme der Wahl besteht 
nicht (Verf § 24). Die Wahl erfolgt auf Lebens- 
zeit. Eine Nötigung zum Austritt aus dem Senat 
ist bei beharrlicher Pflichtverletzung und gröblicher 
Verletzung der schuldigen Achtung auf Grund 
Disziplinarverfahrens vorgesehen (Verf # 25, 
Gvden Senat betr. § 20). 
Die Senatsmitglieder sind ihrer Rechtsstellung 
nach Beamte (so Bollmann, Brem. Staats= und 
Verwecht § 13; a. M. Seelig, Hamb. Staatsrecht 
83 f; dagegen jetzt auch für Hamburg: Westphal 
in Annalen 1910, 25 f); allerdings nehmen sie 
als Mitglieder des Regierungskollegiums eine 
Sonderstellung vor andern Beamten ein, an 
Stelle eines Vorgesetzten steht bei ihnen der Senat. 
Der Senat wählt aus seiner Mitte 2 Bürger- 
meister; die Wahl erfolgt auf 4 Jahre; alle 2 
Jahre geht einer ab, der nicht sofort wieder wähl- 
bar ist. Einer der Bürgermeister ist für die Dauer 
eines Jahres Präsident des Senats; als solcher 
vertritt er den Senat nach außen und leitet die 
 
	        
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