Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Erster Band. A bis F. (1)

Dispensation 
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233 ff) durch eine selbst positiv wirkende lex 
specialis unter den Begriff der D. gezogen. Was 
die erstgedachte Erweiterung betrifft, so ist dabei 
übersehen, daß für Fälle, in denen bereits eine 
rechtliche Gebundenheit eingetreten ist, die bloße 
Beseitigung der Wirksamkeit des Rechtssatzes 
(d. h. die D. in dem an die Spitze gestellten Sinne) 
ohne rechtliche Bedeutung bleibt, weil sie das 
Produkt seiner Wirkung, die rechtliche Gebunden- 
heit, nicht aufhebt, vielmehr die bereits eingetre- 
tene Rechtswirkung besonders vernichtet werden 
muß. Die zuletzt gedachte Ansicht verkennt, daß 
das von ihr als D. bezeichnete Spezialgesetz, 
wenn es sich auch gegen das allgemeine Recht 
richtet, doch für einen konkreten Tatbestand ein 
für allemal besondere Rechtswirkungen setzt, 
welche durch die einmalige Aufhebung oder Hem- 
mung der Rechtswirksamkeit des allgemeinen Ge- 
setzes niemals hätten erzeugt werden können (wie 
z. B. die Scheidung einer Eh- seitens des evange- 
lischen Landesherrn wegen unüberwindlicher Ab- 
neigung, falls das geltende Recht diese bloß wegen 
Ehebruchs und wegen böslicher Verlassung ge- 
stattete, nicht die Suspension dieses Rechtssatzes 
enthielt, sondern sich vielmehr als eine Vernich- 
tung der Rechtswirkungen der Ehe, zu welcher die 
Suspension gar nicht ausgereicht haben würde, 
darstellte). Bei einer korrekten Begriffsbildung 
kann man nicht Fälle, in denen ein Rechtssatz 
überhaupt nicht wirken kann, und solche, in denen 
er gewirkt hat, aber seine Folgen erst durch einen 
besonderen gesetzgeberischen Akt vernichtet oder 
spezielle positive Wirkungen durch einen solchen 
herbeigeführt werden, unter einen einheitlichen 
Begriff zusammenwerfen (vgl. auch unten § 6). 
Das Recht zur D. ist Ausfluß der gesetzgebenden 
Gewalt; denn wie der Gesetzgeber allein das Recht 
hat, das Gesetz aufzuheben, so besitzt er auch allein 
die Befugnis, seine Wirksamkeit teilweise einzu- 
schränken. Diese Auffassung, welche mit beson- 
derer Schärfe im Kirchenrecht zur Anwendung 
gebracht und auch schon von J. H. Böhmer 
allgemein vertreten worden ist (.„Potestas fe- 
rendi leges est etiam mensura potestatis dispen- 
sandi; facultas dispensandi est sequela potestatis 
legislatoriae“") kann heute als die herrschende 
bezeichnet werden (vgl. v. Gerber, H. 
Schulze und E. Meier). Die Annahme 
(Friedberg 275, G. Meyer-Anschütz 
653 u. a.), daß die D. kein Ausfluß der gesetzgeben- 
den Gewalt, vielmehr Verwpandlung sei, weil 
die erstere bloß objektives Recht setze und die D. 
den Rechtssatz, kraft dessen sie erteilt werden darf, 
voraussetze, verkennt einmal, daß in der rechts- 
setzenden Funktion der Gesetzgebung auch die Be- 
stimmung des Umfanges, also der Tatbestände, 
welche vom Gesetz ergriffen werden sollen, ent- 
halten ist, und daß der Gesetzgeber selbst, weil ihm 
die Herrschaft über das Recht innewohnt, seiner- 
seits auch ohne einen ihn ermächtigenden objektiven 
Rechtssatz eine D. eintreten lassen kann. Endlich 
verwechselt diese Ansicht die durch den Gesetzgeber 
für gewisse Fälle erteilte Befugnis zur D., also 
zur Ausübung der gesetzgebenden Gewalt in be- 
stimmt begrenzten Fällen, mit der D. selbst und 
dem Rechtsgrund derselben. 
# 2. Das Subjekt der Dispensationsgewalt 
auf dem Gebiete des staatlichen Rechts. Aus 
dem Begriff der D. folgt, daß allein dasjenige 
  
  
— . –——.— —— 
Organ, welchem die gesetzgebende Gewalt zusteht, 
zur Erteilung einer D. befugt ist. Die Theorie des 
älteren deutschen Staatsrechts war daher völlig 
im Rechte, wenn sie dem Landesherrn, welchem 
sie die Macht zuschrieb, Gesetze zu geben, als na- 
türliche Folge dieser Befugnis ein allgemeines 
Dispensationsrecht beilegte, da die etwaige Mit- 
wirkung von Land= und Reichstagen sich nicht auf 
die Ausübung der Gesetzgebungsgewalt überhaupt 
erstreckte. Sie beschränkte das D.Recht nur hin- 
sichtlich wohlerworbener Rechte dritter oder un- 
bedingt verpflichtender Bestimmungen der Ver, 
fassung. Auf diesem Standpunkt stehen von den 
in Deutschland noch heute geltenden Verfassungen 
die braunschweigische Landschafts O v. 
12. 10. 32 §6 („Der Landesfürst kann in einzelnen 
Fällen D. erteilen, jedoch, insofern dritte Personen 
wegen ihrer Rechte benachteiligt sind, nur mit de- 
ren Zustimmung") und das koburg-go- 
thaische Staatsgrund G v. 3. 5. 52 F 128 
(„Der Herzog übt das Recht der Erteilung der D., 
soweit diese Befugnis nicht durch besondere ge- 
setzliche Bestimmungen beschränkt ist"). 
Im modernen konstitutionellen Staat, in wel- 
chem die Gesetzgebung nicht allein vom Staats- 
oberhaupt, sondern nur unter Mitwirkung des 
Landtages ausgeübt werden kann, kommt dagegen 
dem ersteren die ausschließliche Ausübung der 
D.Gewalt nicht mehr zu; vielmehr ist er dabei an 
die Zustimmung des anderen Gesetzgebungsfaktors 
gebunden, es sei denn, daß ihm dieselbe durch 
besonderes Gesetz für einzelne Fälle übertragen, 
delegiert ist. Die Mehrzahl der deutschen Ver- 
fassungsurkunden enthalten über das D.Recht 
keine Bestimmungen (eine Ausnahme macht die 
Bremer von 1875 X 57 k, nach welcher dasselbe 
dem Senate, soweit es nach den Gesetzen und dem 
rechtlichen Herkommen zulässig ist, beigelegt wor- 
den ist); aber mit der Beschränkung der Gesetz- 
gebungsgewalt ist auch ohne weiteres die Beschrän- 
kung der D. Gewalt gegeben. Deshalb kann man 
nicht, mit von Mohl (Reichsstaatsrecht 165), den 
Landesbehörden ein allgemeines D.Recht in 
betreff der Reichsgesetze beilegen. Die hier ver- 
tretene Auffassung, wonach der Monarch allein 
nur auf Grund gesetzlicher Ermächtigung dispen- 
sieren kann, entspricht derjenigen, welche in der 
Theorie des neueren Staatsrechtes die herrschende 
bildet (v. Gerber, Gneist, Schulze, 
E. Meier, G. Meyer-Anuschütz, v. 
Rönne, v. Sarwey, Gaupp-Göz, 
Ulbrich, E. Loening, v. Seydel, 
Schwartz, Steinitz u. a.). Im Sinne 
dieser Theorie hat in neuester Zeit auch das Preu- 
ßische Gv. 11. 5. 98, betr. den Staatshaushalt, 
8 18, über die Spezialfrage der Kgl Steuererlasse 
Entscheidung getroffen (zu vgl. Laband, 
Arch OeffR 7, 169 ff einerseits und Steinitz 
a. a. O. 33 ff sowie Meyer-Anschüt 653 
andererseits). 
Aus dem gedachten Prinzip folgt aber auch 
weiter, daß, soweit dem Staatsoberhaupt oder 
einzelnen Staatsbehörden ein Verordnungsrecht 
zusteht, diese von den in Ausübung desselben er- 
lassenen Normen, falls dadurch nicht etwa das 
Verfassungsrecht oder das allgemein geltende 
Recht berührt und modifiziert wird, zu dispensieren 
befugt sind. 
Im Gehbiete des Reichsrechts gilt im Grund-
	        
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