744
Evangelische Kirche
ßen, die reformierten Gemeinden ihrerseits auch
noch einen gesonderten Charakter tragen, je nach-
dem sie ursprünglich durch Zwingli oder durch
Calvin (Hugenotten) bestimmt waren und sich
darnach in deutsch-reformierte und in französisch-
reformierte Gemeinden gliedern.
5. Die ev. K. als Landeskirche ist nicht in sämt-
lichen deutschen Staaten einheitlich gestaltet. In
Bayern bestehen zwei Formationen: die unierte
Kirche der Pfalz und die nichtunierten bei-
den evangelischen Kirchen des rechtsrheinischen
Bayerns. In Preußen wurde bei den Neuerwer-
bungen sowohl von 1815 als auch 1866 eine Aen-
derung in den kirchlichen Verhältnissen der neuen
Provinzen grundsätzlich vermieden. Doch wurde
die ev. K. für die Rheinprovinz und Westfalen
der landeskirchlichen Zentralinstanz (Oberkirchen-
rat) unterstellt und ebenso dem landeskirchlichen
Synodalverband (Generalsynode) eingegliedert;
im übrigen leben auch diese beiden Provinzen
kirchlich nach eigenem Recht. Die ev. K. der drei
neuen Provinzen ist dem altlandeskirchlichen
Zentralverband überhaupt nicht eingefügt, und
es biloen Hannover, Schleswig-Holstein, das
cehem. Kurhessen (Reg Bez. Kassel), das ehem.
Nassau (Reg Bez. Wiesbaden) und Frankfurt a. M.
je vollkommen selbständige kirchliche Organisatio-
nen (Zorn 205 f. Schoen 1, 93 ff). Auch für Ol-
denburg, Sachsen-Koburg-Gotha, Lübeck und
Bremen bestehen einheitliche Organisationen nicht.
6. Eine deutsche evangelische
Kirche im Rechtssinne besteht nicht.
Doch treten seit 1852 Vertreter der deutschen
cvangelischen Landeskirchen zu einer freien Ver-
einigung, der sog. Eise nacher Konferenzz,
in periodischen Zwischenräumen zusammen, um
über allgemeine Angelegenheiten zu beraten und
Beschlüsse zu fassen, deren Rechtscharakter aber
völlig vom Belieben der einzelnen Landeskirchen
abhängt; auch der 1903 ins Leben getretene
Deutsche evangelische Kirchenaus-
schuß ist kein Gesetzgebungsorgan. Erhebliche
Bedeutung für die Entwickelung des evangelischen
Kirchenwesens hat die Vereinigung noch nicht
gewinnen können (aber unten Z. 8). Einzelne
neuere Kirchenordnungen, so die altpreußische,
badische, sehen die Möglichkeit einer rechtlichen
Verbindung der evangelischen Kirchen Deutsch-
lands vor (preuß. Gen SynO §&.19). Nach dem
Kirchen G v. 7. 5. 00 (Kirchl. GV l 27) vermittelt
der pr. Ev. Oberkirchenrat den Anschluß der mit
der Landeskirche in Verbindung stehenden deut-
schen Kirchengemeinden außerhalb Deutsch-
lands; über den Auschluß selbst bestimmt der
König.
7. Es kommen mehrfach in Deutschland cvange-
lische Kirchenbildungen vor, welche außerhalb der
landeskirchlichen Verbände stehen. Haben die-
selben sich als selbständige Religionsgesellschaften
mit besonderer Rechtsgrundlage und eigentüm-
lichen Kultusformen eingerichtet, so bezeichnet man
sie als Sekten (was jedoch heute kein Rechts-
begriff mehr ist), so die Baptisten, Mennoniten,
Irvingianer, Herrnhuter (oder böhmischen Brü-
der) u. a.; auch haben sich evangelische Gemein-
schaften aus äußeren Anlässen rechtlich von der
Landeskirche getrennt ohne irgendwelche Ver-
ä#nderung ihres evangelischen Charakters im gan-
zen wie im einzelnen, so die separierten Alt-
lutheraner in Preußen wegen der Union
(Gen. Konzession v. 23. 7.345 mit Ergänzung und
Fübönkeung v. 23. 5.108) I/ Religionsgesell-
aften!.
8. In den deutschen Schutzgebieten ist eine
staatliche Kirchenorganisation bisher nicht zur Aus-
bildung gelangt. Die kirchlichen Angelegenheiten
werden von den Missionen besorgt. Die Missions-
gesellschaften sind keiner der mutterländischen
Landeskirchen angegliedert, sondern stehen selb-
ständig da. Dagegen haben sich die in den Kolo-
nien errichteten Kirchengemeinden (z. B. Swa-
kopmund, Windhufk, Karibib, Lüderitzbucht, Dares-
salam, Tsingtau) der altpreußischen Landeskirche
angeschlossen. Sie unterstehen der Aufsicht des
Ev. Oberkirchenrats. Den bisher von letzterem
verwalteten Kirchenbaufonds für die Schutzge-
biete hat neuerdings der deutsche ev. Kirchen-
ausschuß (oben Z. 6) übernommen. Der Grund-
satz der Religionsfreiheit ist in den Kolonien durch
8 14 des SchutzgebG eingeführt worden; doch
bezieht er sich nur auf die Angehörigen der im
Deutschen Reiche anerkannten Religionsgemein-
schaften (Köbner in v. Holtz.-Kohlers Enzykl. 2,
1904, 11056; v. Hoffmann, KolrR., 1907, 63 ff;
Jacobi in Z f. Kirchenrecht 1903 S 354, 1904
S 373; Freytag in Z f. Kol Pol. usw. 10, 1908,
S 300 ff, 342 ff: Fleischmann im Jahrbuch über
die deutschen Kolonien 3, 1910, 61).
2. Die Verfassung der evangelischen Kirche.
1. Nach mehrfachen Schwankungen und Verfu-
chen wurde die Verfassung der ev. K. in Deutsch-
land allenthalben in der Weise geordnet, daß an
die Stelle der Verfassungsträger in der katholi-
schen Zeit, des Papstes und der Bischöfe, der
Landesherr als Trägerdes Kirchen-
re gimentes (summus episcopus)
eintrat. Wenn auch die unmittelbare Veranlassung
hierzu der Notstand des Mangels einer anderen
Verfassungsgrundlage war, so wirkten dabei doch
auch innere Gründe mit, so der Gedanke, daß das
Kirchenwesen ein Teil der „Landespolizei“ sei,
und insbesondere die theokratische Vorstellung,
daß es Aufgabe des Staates sei, nicht allein für
das äußerc Wohl, sondern auch für das Seelen-
heil der Untertanen zu sorgen (custodia utriusque
tabulae, Zorn K R 154 f). Auf diesem letzteren
Gedanken sind alle Kirchenordnungen der Refor-
mationszeit ausgebaut. Dogmatischen Charakter
aber hat die Einrichtung des Summepiskopates in
der ev. Kirche nicht.
Die Verfassungsgrundlage des landesherrlichen
Kirchenregimentes ist in allen ev. Kirchen Deutsch-
lands auch heute noch geltendes Recht, wenn auch
die inneren Gründe, welche in der Reformations-
zeit hierzu geführt hatten, längst dahingefallen
sind. Nur der Kaiser von Oesterreich hat auf das
evangelische Kirchenregiment (1861) verzichtet,
nicht aber dic katholischen Könige, von Bayern
und Sachsen; doch muß letzterer alle Rechte des
Kirchenregiments ausüben durch 4 „in evangelicis
beauftragte“ Staatsminister, ersterer durch ein
„selbständiges“ Oberkonsistorium (in der Pfalz
durch das Konsistorium in Speyer), welches je-
doch in vollständige Unterordnung unter das
staatliche Kultusministerium gebracht ist (Zorn
361 f). In Württemberg ist seit 1898 für
den Fall der Zugehörigkeit des LLandesherrn zu
einer nichtevangel. Konfession die Ausübung des