Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Erster Band. A bis F. (1)

  
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Freizügigkeit (A Reichsgebiet) 
2. Eine besonders einschneidende, infolge der 
aber verschieden wirkende Befugnis räumt das 
F. Gesetz den Bundesstaaten ein, indem sie sich 
bestrafter Personen, welche nach Lan- 
desrecht einer Aufenthaltsbeschränkung (s. u.) 
unterliegen, durch Landesverweisung entledigen 
können. Ein Bayer also, der in Bayern auf Grund 
Verurteilung wegen Diebstahls aus einer bayeri- 
schen Gemeinde ausgewiesen wurde, kann aus 
sämtlichen Bundesstaaten, denen er nicht ange- 
hört, ausgewiesen werden, gleichviel ob sein Ver- 
halten noch zu beanstanden ist oder nicht. 
Nicht unzulässig ist, daß ein Staat gleichzeitig 
die nach seinem Rechte zulässige Beschränkung und 
die hiedurch zulässig gewordene Landesverwei- 
sung ausspricht. 
Die Dauer der Landesverweisung ist be- 
schränkt durch die Dauer der Aufenthaltsbeschrän- 
kung; ist diese unbeschränkt, so auch jene. 
Im allgemeinen gilt das in Ziffer 1 Bemerkte; 
die Vereinbarungen der deutschen Bundesregie- 
rungen und ihre Meinungsverschiedenheiten treffen 
auch diese Beschränkung. Unter den deutschen 
Regierungen ist vereinbart (1894), daß wenn auf 
Grund landesrechtlicher Bestimmungen bereits 
nach einmaliger Bestrafung wegen Bettels oder 
Landstreicherei eine Aufenthaltsbeschränkung ver- 
fügt werden kann, hierauf eine Ausweisung nicht 
gestützt werden soll. 
3. Ob die Landespolizeibehörde in den Fällen 
1 und 2 von der Ausweisungsbe fugnis Gebrauch 
macht, ist Sache ihres Ermessens. Zulässig ist es, 
statt der Landesverweisung auf deren zulässige 
Dauer eine Aufenthaltsbeschränkung zu verfügen 
oder von der Verweisung unter Bedingungen 
abzusehen. Eine unzulässige Landesverweisung 
wäre eine Rechtsverletzung, gegen welche die 
Rechtsmittel gegeben sind, die in dem Bundes- 
staat gegen Verletzungen des öffentlichen Rechtes 
offen stehen, so in Preußen, wie gegen poli- 
zeiliche Verfügungen (§§ 127 cg LVG), in Bayern 
das regelmäßige verwaltungsrechtliche Versahren 
(àa 883 VWGH). In Baden gibt es jedoch für 
ausgewiesene Bettler, Landstreicher und unter 
Polizeiaussicht Gestellte keine Verwkklage. 
4. Der Vollzug der Landesverweisung kann 
nur den Zweck haben, die angeordnete Beschrän- 
kung der F. durchzuführen. Nur solche Maßnah= 
men sind demnach zulässig, die erforderlich sind, 
um die fernere Anwesenheit des Verwiesenen in 
dem verweisenden Staat zu verhindern. Dem- 
nach kann von einer „Uebernahme“ des Ver- 
wiesenen durch seinen Heimatstaat keine Rede 
sein. & 6 des F.G kommt nicht in Frage; vgl. 
v. Seydel St R 3, 31. Gleichwohl haben die Bun- 
desregierungen 1894 die Vereinbarung getrof- 
fen, die Bestimmungen des Gothaer Vt v. 15. 
7. 51 zur Anwendung zu bringen. Der Ausge- 
wiesene wird also in seinen Heimatstaat trans- 
portiert; er kann dann von dort aus seinen Auf- 
enthalt wählen. 
Der Bruch der Landesverweisung ist strafbar 
(§ 361 Ziff. 2 St GB). 
B. Das F. Gesetz hat landesrechtliche 
Beschränkungen der F. aufrechterhalten: 
„Insoweit bestrafte Personen nach den Landes- 
esetzen Aufenthaltsbeschränkungen durch die Po- 
izeibehörde unterworfen werden können, behält, Dauer, zu einer Freiheitsstrafe von mehr als 6 
  
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es dabei sein Bewenden" (F.G § 3 l). Wegge- 
Ungleichheit der Landesrechte und der Praxis 
fallen sind die unmittelbar durch Strafurteile 
verhängten Aufenthaltsbeschränkungen; denn die 
Strafen ordnet das Reichsstrafgesetzbuch, so auch 
den Inhalt der Polizeiaufsicht sJ. Beseitigt 
sind auch Beschränkungen, die ohne Rücksicht auf 
eine Strafe verhängt werden konnten. Dagegen soll 
der einzelne Staat der Ansammlung gefährlicher 
Personen an einzelnen Orten vorbeugen können, 
vorausgesetzt, daß diese Gefährlichkeit durch rich- 
beriches Strafurteil erhellt (über die Folgen 
Dies kann auch geschehen durch neue Ge- 
setze; das Verbot solcher Gesetze wäre zweckwidrig 
und ist durch den Wortlaut des F. Gesetzes nicht 
bedingt (so wurden in Anhalt durch Landesgesetz 
von 1892 Aufenthaltsbeschränkungen neu ge- 
schaffen; die Vorlage war dem Reichskanzler be- 
hufs Prüfung ihrer Vereinbarkeit mit dem Reichs- 
recht unterbreitet worden); eine Anzahl Schrift- 
steller stehen aber auf dem entgegengesetzten 
Standpunkt. Bestritten ist auch, ob ein Staat 
einen staatsfremden Deutschen größeren Be- 
schränkungen unterstellen kann als seinen eigenen 
Angehörigen. Keine Voraussetzung der Be- 
schränkung ist, daß die Strafe im Gebiet des 
Bundesstaats ausgesprochen ist, der die Be- 
schränkung verhängen will. 
Die Aufenthaltsbeschränkung trifft nur den- 
jenigen, bei dem die Voraussetzungen gegeben 
sind, nicht seine Familienangehörigen. 
Zumeist wird die Beschränkung in dem Ver- 
bote bestehen, im Bezirke bestimmter Gemeinden 
sich aufzuhalten (Ortsverweisung). 
Von Bedeutung sind die Beschränkungen, welche 
in Preußen, Bayern, Württemberg, Sachsen, 
Anhalt bestehen; in den übrigen Bundesstaaten 
finden sich solche Beschränkungen überhaupt nicht, 
oder ihr Umfang ist unerheblich oder ihre Geltung 
bestritten. 
a) In Preußen, jedoch nur in den neun 
alten Provinzen, gilt noch § 2 des G betreffend 
die Aufnahme neu anziehender Personen v. 31. 
12. 42. Beschränkungen unterliegen nur Neu- 
anziehende (also nicht mit Kenntnis der Polizei 
ansässig gewordene), diese aber in weitem Maße, 
sei es, daß sie schon Aufenthalt genommen haben 
oder erst zuziehen wollen. Voraussetzung der Be- 
schränkung ist, daß jemand zu irgendwelcher (1) 
Zeit und irgendwo (1) zu Zuchthaus oder wegen 
irgend einer Straftat „wodurch der Täter sich als 
einen für die öffentliche Sicherheit oder Morali- 
tät gefährlichen Menschen darstellt" zu einer 
Freiheitsstrafe (Geldstrafe genügt nach der über- 
wiegenden Ansicht nicht) verurteilt worden ist. 
Die Aufenthaltsbeschränkung kann nicht das ganze 
Staatsgebiet umfassen. In den seit 1866 erwor- 
benen preußischen Landesteilen und in Sigma- 
ringen bestehen Aufenthaltsbeschränkungen nicht. 
Die Ausweisung erfolgt durch den Reg Präsidenten. 
b) In Bayern kann niemand aus seiner 
Heimatgemeinde verdrängt werden. Bayern und 
nicht-bayerischen Deutschen kann gemäß a 37, 39 
Heimat G v. 16. 4. 68 (Fassung v. 30. 7. 99) der 
Aufenthalt in einer fremden Gemeinde d. h. in 
jeder, in welcher sie nicht heimatberechtigt sind, 
durch die Pol Behörde verboten werden bei Ver- 
urteilung zu Zuchthaus von mehr als 5jähriger
	        
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