Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Erster Band. A bis F. (1)

  
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Fürsorgeerziehung 
  
oder die Erreichung des Zweckes anderweit sicher- 
gestellt ist. Eine untere Anfangsgrenze besteht 
nicht. § 1 Nr. 1 ist vom Kammergerichte als letz- 
tes Auskunftsmittel bezeichnet worden, nur an- 
wendbar, wenn die subjektive Verwahrlosung des 
Minderjährigen nicht nur eine Trennung von den 
Eltern, die eben schon nach §& 1666 angeordnet 
werden könne, sondern besondere erziehliche Maß- 
regeln notwendig mache. IKG: 22, 236, 242; 
23, 32, 37; 24, 158; 25, 25, 202.] Durch die gegen- 
teilige Judikatur des Oberverwalungsgerichtes ist 
die Lage unmöglich geworden, und man geht mit 
einer Umgestaltung des §& 1 Nr. 1 ernstlich um. 
Man will den rein vorbeugenden Charakter des 
Gesetzes stärker betonen. In Sachsen hat 
man der Vorbeugung bereits Rechnung getragen 
und die FE in & 1 des Gesetzes vom 1. 2. 09 
dann für statthaft erklärt, wenn §#§# 1666, 1838 
B# zutreffen und die „Entfernung des Minder- 
jährigen aus seiner bisherigen Umgebung zur Ver- 
hütung seiner Verwahrlosung erforderlich ist“. Das 
Gleiche wollte auch das Preußische Gesetz 
sagen. Eine „besonders geartete“ E gibt es 
überhaupt nicht, vielmehr nur Sicherung 
oder Ermöglichung einer normalen E. Wo 
die normale E nur durch ein endgültiges Zer- 
schneiden der Verbindung mit der Vergangenheit 
und Uebernahme der persönlichen F durch eine 
ur Abwehr feindlicher Einflüsse hinreichend 
Karte Macht gesichert werden kann, da ist die FE 
„erforderlich". 
2. Das Verfahren lehnt sich an das des 
Gesetzes über freiwillige Gerichtsbarkeit an, hat 
aber wesentliche Abweichungen, durch die es 
sich einem Parteiprozesse nähert. Das Vor- 
mundschaftsgericht hat zwar auch von Amts we- 
gen zu verfahren, aber zum Antrage und zur 
Beschwerde sind nur bestimmte Stellen bercchtigt, 
zum Antrag der Landrat, in Städten von über 
10 000 Einwohnern auch der Gemeindevorstand, 
„in Stadtkreisen der Gemeindevorstand und der 
Vorsteher der Kgl Pol Behörde“. Das Verfahren 
endet durch einen Beschluß (Zustellung an die 
BeschwBerechtigten). Beschwerdeberechtigt sind 
außer den Antragsberechtigten der verpflichtete 
Kommunalverband (Landeshauptmann, Landes- 
direktor) und, wenn der Beschluß auf FE lautet, 
auch der gesetzliche Vertreter und der über 14 
Jahre alte Minderjährige. Die sofortige Be- 
schwerde (Frist 2 Wochen) hat aufsschiebende Wir- 
kung. Die sofortige weitere Beschwerde geht an 
das Kammergericht. Die Beschlüsse sind der 
Rechtskraft fähig. Bei Gefahr im Verzuge kann 
das Vormundschaftsgericht eine vorläufige Unter- 
bringung anordnen, deren Ausführung und vor- 
läufige Bezahlung dann der Polizei des Aufent- 
haltes obliegt. Durch Rechtskraft des Beschlusses 
erwirbt der Kommunalverband als Beauf- 
tragter des Staates die ganze Erzichungs- 
gewalt. Er kann die E in einer Anstalt oder in 
einer Familic, auch in der eigenen Familie des 
Zöglings vornehmen lassen. Die Aufsicht über 
die in Familien untergebrachten Zöglinge führen 
Fürsorger (auch Frauen). Der Kommunal= 
verband kann die Aufhebung der FE auf Wider- 
ruf oder endgültig beschließen. Weigert er das 
letztere nach Antrag der Eltern oder des gesetz- 
lichen Vertreters, so kann der Antragsteller binnen 
2 Wochen die Entscheidung des Vormundschafts- 
  
gerichtes anrufen (dagegen sofortige Beschwerde). 
Von den Kosten der Eund des Unterhaltesschießt 
der Staat 39 zu. — Die Anstalten gehören nur 
zum geringsten Teil dem Staat oder den Kom- 
munalverbänden, die Mehrzahl gehören der kath. 
Caritas oder der evang. Inneren Mission. Familie 
und Zögling sind erstattungspflichtig; doch sind 
die eintreibbaren Beträge unbedeutend. „Ent- 
führung“" eines Zöglings wird bestraft; ebenso 
in Bayern, Sachsen, Württemberg 
und Hamburg. 
II. Bayern. Das G v. 10. 5. 02 unterscheidet 
sich vom preußischen Eesetze zunächst durch Fort- 
fall der oberen Altersgrenze. Aber „die Zwangs E 
soll nach Vollendung des 16. Jahres nur in be- 
sonderen Fällen angeordnet werden und nach 
dem 18. nur in besonderen Fällen fortgesetzt 
werden.“ Die Voraussetzungen unterscheiden sich 
nicht wesentlich von den preußischen. Trotzdem 
ist die Anwendung durch die bayrischen Gerichte 
eine in höherem Grade vorbeugende gewesen. 
Wenigstens ist der Prozentsatz der auf Grund der 
Nr. 1 des à 1 Ueberwiesenen größer. Zustellungs- 
pflicht und Art der Beschwerde ist gleich dem 
preuß. Gesetze geregelt. An Stelle des Kommu- 
nalverbandes tritt hier die „Distriktsverwaltungs- 
behörde“, an Stelle des Landrates die „Heimat- 
behörde“. Beide haben auch ein Recht auf Akten- 
mitteilung und Aeußerung, aber kein ausschließ- 
liches Antragsrecht. Das Verfahren ist vielmehr 
von Amts wegen zu eröffnen und zu betreiben. 
Die Aufhebung erfolgt durch das Vormundschafts- 
gericht, auch die widerrufliche Aufhebung. Letz- 
tere kann als „vorläufige“ Entlassung auch von 
der Distriktsverwaltungsbehörde verfügt werden; 
ihr ist der Aufhebungsbeschluß des Amtsgerichts 
bekannt zu geben; sie hat das Beschwerderecht, 
wie der preußische Kommunalverband. Ueber 
die Familienpfleglinge wacht der Gemeinde- 
waisenrat (Waisenpflegerinnen) an Stelle der 
„Fürsorger“. Die Kosten regelung ist ganz anders 
wie in Preußen. Grundsätzlich trägt die Kosten 
die Heimatgemeinde. Hat der Zögling keine solche 
in Bayern, so zahlt die Staatskasse. Die Unter- 
haltspflichtigen sind heranzuziehen, wie in Preu- 
ßhen. „In Ermangelung zahlungsfähiger Ver- 
pflichteter kann die Heimatgemeinde beanspruchen, 
daß ihr ½8 der Kosten von der Distriktsgemeinde 
und /8 von der Staatskasse ersetzt werden.“ 
III. Sachsen. G v. 1. 2. 09. Voraussetzungen 
siehe oben § 5 Abs. 1 unten, sonst wie in Preußen, 
jedoch nur gegen sittliche Verwahrlosung. 
Nach 16 Jahren nur in besonderen Fällen anzu- 
ordnen. Antragsberechtigt: untere Verw Behörde 
und Bozirksschulinspektion. Sofortige Beschwerde, 
Zustellung, vorläufige Unterbringung (unanfecht- 
bar), Kommunalverbände als Ausführungsorgan, 
Beschlußform, widerrufliche Entlassung, Erstat- 
tungspflicht der Familic wie in Preußen. Ebenso 
Endigung mit Volljährigkeit. Aufhebung nur 
durch Vormundschaftsgericht! Die Kosten erstat- 
tet dem Kommunalverband zu ¼ der Staat, zu ¼ 
der Armenverband, bei Reichsausländern ganz 
der Staat. Diese Aufwendungen erfolgen auch, 
wenn der Landespolizei überwiesene Lustdirnen 
in Epaft kommen, oder wenn das Vormundschafts- 
gericht Unterbringung auf Antrag des EBerech- 
tigten anordnet. Anwendung der I# 1666 oder 
  
1838 Bun gegen andere Gefahren als die sitt-
	        
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