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Gerichtsverfassung
innerhalb ihres Staatsgebietes, sondern innerhalb
des ganzen Reichsgebietes wirksam ist (Thudichum,
Die Exterritorialität der deutschen Landesherren
in Annalen 1885 S 320 ff; Hellwig, Lehrb. d.
Z. Proz. 1, 75; Wittmaak, Arch Ziv Pr 90, 47 ff).
4. Die Standesherren sind von der ordent-
lichen streitigen Gerichtsbarkeit insoweit befreit, als
nach §7 EG GV# das ihnen landesgesetzlich ge-
währte „Recht auf Austräge durch das GVG-
nicht berührt wurde, d. h. das Recht, in Straf-
sachen durch Richter ihres Standes gerichtet zu
werden (näheres J B. d. Pr. G Verf. 1910 S142).
Insoweit ihnen zur Zeit der Einführung der Reichs-
gesetze dieses Recht landesgesetzlich eingeräumt
war, behielten sie es. Im übrigen sind die Standes-
herren der ordentlichen streitigen Gerichtsbarkeit
unterworfen, sie haben namentlich auch in dieser
keinen privilegierten Gerichtsstand. Anders in
der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Hier sind in
Preußen die OLE# die Vormundschaftsgerichte
ür die vormals reichsunmittelbaren standesherr-
ichen Familien, in Hannover und Hohenzollern
sind es jedoch die Landgerichte (Pr. AG GVG
# 27). S. ferner Württ. AG BGB a l4, 24 ffj;
Bayr. As BoBal und Roth, Bayr. Zivil R.
32.
IV. Zur Ausübung der Gerichtsbarkeit
sind die Einzelstaaten kraft eigenen Rechtes und
im eigenen Namen befugt, soweit nicht das Reich
sich selbst die Gerichtsbarkeit beigelegt hat; nur
sind sie verpflichtet, hierbei die Vorschriften der
Reichsgesetze zu beachten. Da nun die Einzel-
staaten Mitglieder eines Bundesstaats sind und
Gerichtsverfassung und gerichtliches Verfahren
für den ganzen Bundesstaat einheitlich geregelt
sind, so erstreckt sich die Wirksamkeit der Entschei-
dungen und Urteile der ordentlichen Gerichte auf
das ganze Reichsgebiet; dasselbe ist der Fall hin-
sichtlich der Wirkungen der bei einem Oerichte
eingetretenen Rechtshängigkeit und der verpflich-
tenden Kraft der ergehenden richterlichen Ver-
fügungen. Jeder Deutsche ist in betreff der Rechts-
verfolgung und des Rechtsschutzes in jedem deut-
schen Staate dem Einheimischen gleich zu behan-
deln (vgl. a 3 RV). Die deutschen Gerichte haben
sich in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, in Straf-
sachen und in Sachen der freiwilligen Gerichts-
barkeit, die durch Reichsgesetz den ordentlichen
Gerichten übertragen sind, nach Maßgabe des 13.
Titels GVG# Rechtshilfe zu leisten (GV.G 5# 157 ff;
FGG 82); vgl. RGg 62, 416; 69, 271.
Das GVG regelt die Ordnung und Einrichtung
der ordentlichen Gerichte jedoch nur in den Grund-
sätzen und Grundzügen, im übrigen ist es den
Einzelstaaten überlassen, die Einrichtung der Ge-
richte im einzelnen zu bestimmen, die Gerichts-
bezirke abzugrenzen, die Vorbildung der gericht-
lichen Beamten im Rahmen der reichsgesetzlichen
Vorschriften (II 2 f GVeG) festzusetzen und die
richterlichen Beamten zu ernennen. Ob und in
welchem Maße die hierzu erforderlichen Vor-
schriften im Wege des formellen Gesetzes zu er-
lassen sind, oder durch landesherrliche Verordnung
getroffen werden können, bestimmt sich nach
Landesrecht.
Die ordentliche streitige Gerichtsbarkeit wird
von den Einzelstaaten zu eigenem Rechte und in
eigenem Namen aber nach dem GV und
den sonstigen reichsrechtlichen Vorschriften und
infolgedessen auch unter Aufsicht des Reichs aus-
geübt. Die Aufsicht liegt dem Kaiser ob, der sie
durch das dem Reichskanzler unterstellte Reichs-
justizamt (J Justizverwaltung)] bewirkt.
Zeigen sich Mängel, die der Einzelstaat trotz An-
regung des Reichskanzlers nicht abstellt, so hat
der Bundesrat über die richtige Handhabung
der Reichsgesetze zu beschließen (a 7 Nr. 3 R#).
Die Gerichte sind in der Rechtsprechung unab-
hängig, d. h. nur an die Gesetze gebunden, daher
insoweit auch den Weisungen der einzelstaatlichen
Regierungen nicht unterworfen. Daher erstreckt
sich auch die Aufsicht des Reiches nicht auf die
Rechtsprechung der Gerichte. Dagegen steht aller-
dings die Justizverwaltung unter der Aufsicht des
Reiches, welche insbesonderc darauf zu richten ist,
daß in den Einzelstaaten die im GG vorgezeich-
nete Behördenorganisation richtig durchgeführt
ist, die Gerichte und die Staatsanwaltschaften usw.
mit gehörig vorgebildeten Beamten besetzt sind
und die Gerichte die gesetzliche Unabhängigkeit
auch genießen. Gegen Justizverweigerung hat
nach a 77 RV der Bundesrat auf Anrufen der
Beteiligten einzuschreiten.
## 3. Grundzüge der Gerichtsverfassung.
I. Die wichtigsten Grundsätze, auf denen die
deutsche Gerichtsverfassung beruht, sind:
1. Die Gerichte sind Staatsgerichte;
die Privatgerichtsbarkeit (z. B. der Gutsherren,
Städte, Hochschulen) ist seit 1879 aufgehoben.
Beseitigt sind auch alle Präsentationsrechte für die
Anstellung bei den Gerichten. Die Ausübung einer
geistlichen Gerichtsbarkeit in weltlichen Angelegen-
heiten, insbesondere in Ehe= und Verlöbnissachen,
ist ohne bürgerliche Wirkung (§ 15 GVd).
2. Die richterliche Gewalt wird durch unabhängige
nur dem Gesetz unterworfene Gerichte ausgeübt
(GVG #K1). Die Unabhängigkeit der Ge-
richte schließt nicht nur die sog. Kabinettsjustiz,
also die unmittelbare Rechtsprechung durch den
Monarchen („Machtsprüche"), sondern auch jede
Einwirkung der Verwaltung auf die rechtsprechende
Tätigkeit der Gerichte aus. Das auch nach 1879
noch in einigen gemeinrechtlichen Bezirken fortgel-
tende landesherrliche Ehescheidungsrecht ist durch
das BGB beseitigt. Von der Gerichtsbarkeit zu
scheiden ist das Gnadenrecht des Landesherrn,
das sich nicht nur in Strafsachen und im Rechte
der öffentlichen Abgaben, wie Stempel und Kosten,
betätigt, sondern auch in der freiwilligen Gerichts-
barkeit eine Rolle spielt (Bestätigung von Fidei-
kommissen und Stiftungen, Genehmigung von
Schenkungen und letztwilligen Zuwendungen an
juristische Personen, Befreiung von gewissen Ehe-
hindernissen, vom Altershindernis bei der Kindes-
annahme usw.). Um die Unabhängigkeit der Ge-
richte zu schützen, sind verschiedene Bestimmungen
erlassen worden, die sich zum Teil nur geschichtlich
durch gewisse Vorgänge in der sog. Konfliktszeit
erklären: a) Vorschriften über die persönliche
Stellung der Richter. Nach § 6 GV0 sind die
Richter auf Lebenszeit zu ernennen; nach §J8 GVG
können Richter wider ihren Willen nur durch rich-
terliche Entscheidung und nur aus den Gründen
und unter den Formen, welche die Gesetze be-
stimmen, dauernd oder zeitweise ihres Amtes
enthoben oder an eine andere richterliche
Stelle (RG# Z 49, 112) oder in Ruhestand versetzt
werden. Ferner beziehen nach 8 7 GVG Richter