Gesetz
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vetare permittere punire; diese vier Zeitwörter
umschreiben das Wesen rechtssatzmäßiger Nor-
mierung) wie des kanonischen (vgl. c. 4 D. III)
und wie des alten deutschen Rechts („Leges“:
ilex“ ist das Recht, wonach das Volk lebt).
Auf ihr beruht insbesondere der Sprachgebrauch
der neueren und neuesten Privat-Straf= und
Prozeßrechtskodifikationen, so des — in dieser
Beziehung vorbildlichen (OV G 16, 54) — preuß.
AL#d#n, dem der Satz „Gesetz im Sinne dieses Ge-
setzbuches ist jede Rechtsnorm“ überall unausge-
sprochen zu Grunde licgt, so vor allem des BGB
und der Reichssfustizgesetze, deren Einführungs-
gesetze diesen Satz ausdrücklich statuieren (E z.
BGBa 2, z. ZPO a 12, z. St PO a 7, z. KO
à 2). Auch die moderne Rechtswissenschaft ver-
wendet die Ausdrücke „Gesetz“ und „Recht“ oft
als gleichbedeutend (z. B. Lehre von der rückwir-
kenden Kraft oder der Kollision der „Gesetze",
d. h. der Rechtsnormen usw.).
II. Gesetz im formellen Sinne.
Neben den bisher besprochenen materiellen hat
die moderne Staatsentwicklung einen fsormel-
len Gesetzesbegriff gestellt: Gesetz gleich Akt
der Legislative. Legislative aber ist das-
jenige Staatswesen, welches zur Schaffung von
Gesetzen im materiellen Sinne ausschließlich oder
doch spezifisch berufen ist.
Voraussetzung dieses Begriffes des Gesetzes im
sormellen Sinne und seiner Verwirklichung ist,
daß 1. der Staat überhaupt be fugt ist, Gesetze im
materiellen Sinne zu geben, Recht zu setzen und
2. zur Ausübung dieser Befugnis ein besonderes,
selbständiges Organ besteht. Diese beiden Voraus-
setzungen sind nicht selbstverständlich, auch nicht
immer gegeben gewesen. Die erste der beiden
bedeutet, daß die rechtssetzende Gewalt als Funk-
tion der Staatsgewalt, anders ausgedrückt das
Recht als Staatswille erscheint, ein Verhältnis
zwischen Staat und Recht, welches nicht von allem
Anfang an bestanden hat. Der altgermanische und
frühmittelalterliche deutsche Staat hat nichts da-
von gewußt, damals — und in gewissem Sinne
das ganze Mittelalter hindurch — war „die gesetz-
gebende Gewalt in der Staatsgewalt noch nicht
enthalten“ (Sohm, Fränk. Reichs= und Rechts-
geschichte 1. 102). Erst der nach Schluß des Mittel-
alters emporkommende Absolutismus nimmt,
mit festem Willen zur Macht und auf antike An-
schauungen zurückgreifend, das Recht zur Gesetz-
gebung im materiellen Sinne für die Staatsge-
walt in Anspruch. Bildet so dic erste der beiden
Voraussetzungen des formellen Gesetzesbegriffes
eine Errungenschaft der ersten Phase moderner
Staatsbildung, des Absolutismus, so ist dic andere
Vorausseotzung, die Verselbständigung der Legis-
lative als eines besonderen, zur Ausübung der
rechtssetzenden Macht berusenen Staatsorgans der
zweiten Phase zu verdanten: dem Konstitutiona-
lismus. Die konstitutionelle Staatssorm fordert
organisatorische Trennung der rechtssetzenden von
der rechtsanwendenden — richterlichen sowohl
wie vollziehenden — Gewalt. Der den Absolutis-
mus kennzeichnenden Vereinigung der drei „Ge-
(Kant), jenes neue Prinzip entgegengesetzt: die
Teilung der Gewalten; eine Opposition mit
zunächst wissenschaftlichem, dann aber praktischem
Erfolg, welcher den absoluten Staat, der ein be-
sonderes Gesetzgebungsorgan nicht kannte,
nach dem Richtmaß der Gewaltenteilung umgestal-
tet, den konstitutionellen Staat und in ihm eine be-
sondere Legislative geschaffen hat, womit nun erst
die Möglichkeit von Gesctzen im sormellen Sinne
gegeben war. Bei der Errichtung des konstitu-
tionellen Staates kam es vor allem hierauf, d. h.
darauf an, die Rechtsordnung zwar als Staats-
wille, aber als eine Macht erscheinen zu lassen,
welche dem Willen der Untertanen wie ihrer Re-
gierer, der beherrschten wie der herrschenden Per-
sonen, auch des Monarchen, gleicherweise über-
geordnet ist; dies läßt sich nur dadurch erreichen,
daß man 1) die rechtssetzende Gewalt (den Erlaß
der Gesetze im materiellen Sinne) einem be-
sonderen Staatsorganc überträgt und 2) diesem
Organe, der „Legislative“, eine Einrichtung gibt,
welche den Willen des Trägers der Regierungs-
gewalt, in der Monarchie also des Monarchen, hier
nicht allein, sondern nur im Zusammenwirken mit
einem andern, von ihm unabhängigen Organ-
willen, der Volksvertretung, entscheiden
läßt. Ein Blick auf dic einschlägigen Bestimmun-)
gen unserer Verfassungen zeigt, daß der Aufbau
der Legislative im Reich wie in den Einzelstaaten
jenen konstitutionellen Forderungen entspricht:
das nach deutschem Reichs= und Landosstaatsrecht
zur Ausübung der rechtssetzenden Gewalt be-
rufene Organ, die Legislative, ist der Träger der
Staatsgewalt (Bundesrat, Monarch) im ver-
fassungsmäßigen Zusammenwirken mit der Volks-
vertretung (Reichstag, Landtag); vgl. RV a5,
preuß. Vll a 62.
Dic von der Legislative ausgehenden Staats-
akte, sie alle und nur sic sind und heißen „Gesetze“,
d. h. Gesetze im formellen Sinne. Sic führen
diesen Namen lediglich um ihres Ursprungs und
ihrer Form willen, ohne Rüctsicht auf ihren In-
halt, der aus Gesetzen im materiellen Sinne,
Rechtssätzen, bestehen kann, in der Regel bestehen
wird, aber nicht bestehen muß.
Die Gesetzesform ist unvertretbar: sie kann,
wo sie verfassungsmäßig notwendig ist, durch keine
andere Form ersetzt werden außer mit Ermächti-
gung der Legislative selbst. Sie bewirkt den Vor-
rang der in ihrem Gewande erscheinenden Staats-
willenserklärungen gegenüber allen andern Staats-
willenserklärungen. Das Gesetz im formellen
Sinne ist jedem Millen im Staat unbedingt über-
legen, es bricht alle ihre entgegenstehenden Wil-
lenserklärungen und bindet alle — Einzelne und
Staatsorgane — dic es angeht; in ihm offenbart
sich die Staatsgewalt in ihrer vollen Stärke und
Macht. Daraus folgt, daß die in einem Gesetze
walten“ (d. h. Staatsgrundsunktionen) in der
melle Gesetzeskraft).
Hand des Herrschers wird mit der Begründung,
daß solche Vereinigung die Freiheit vernichte
(Montesquien), „daß cine Regierung, welche zu-
gleich Gesetze gibt, despotisch zu nennen wäre“
im sormellen Sinne getroffenen Bestimmungen
nur von dem, der sie getroffen hat, also von der
Legislative selbst in dem für das Zustandekommen
der formellen Gesetze vorgeschriecbenen Verfahren
(s. u. § 4) abgeändert, aufgehoben, authentisch
ausgelegt oder durch Ausnahmen (Dispensationen,
Privilegien) durchbrochen werden können (fsor-
Im Einklang mit dem Sprachgebrauch der
Verfassungen und der Staatsrechtswissenschaft
wird im folgenden das Wort Gesetz im Sinne des