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formellen, nicht des materiellen Verständnisses
angewendet; es ist in diesem Sinne zu verstehen,
soweit nicht ausdrücklich ein anderes bemerkt ist.
#s2. Gegenstände der Gesetzgebung sind solche
Angelegenheiten, die nach dem Verfassungsrecht
des betreffenden Staates nur durch ein formelles
Gesetz und auf keinem anderen Wege, insbeson-
dere nicht durch einseitige Anordnungen der voll-
ziehenden Gewalt (Verordnungen [JI) geregelt
werden dürfen. Gegenstand der Gesetzgebung ist
nach den in dieser Beziehung übereinstimmenden
Grundsätzen des Reichs= und Landcsstaatsrechts
1. alles, was durch ausdrückliche Vorschrift
der Verfassung oder eines Gesetzes zu einem sol-
chen Gegenstande erklärt, d. h. dem Wege der Ge-
setzgebung überwiesen ist (z. B. RV a 60, 69, 73,
preuß. VU a 2, 34, 37, 98, 99, 100). Dies bedarf
keiner weiteren Erörterung.
2. alles was bereits durch ein Gesetz geordnet
ist. Dies folgt aus dem Begriff der formellen
Gesetzeskraft (s. oben & 1 a. E.).
3. jede Aenderung oder Ergänzung der Rechts-
ordnung des Landes, m. a. W. der Erlaß aller
Rechtsnormen, ohne Unterschied des Inhaltes,
mit Ausnahme derjenigen, welche kraft ausdrück-
licher Ermächtigung der Verfassung oder eines
Gesetzes auf einem andern Wege als dem der Ge-
lehgebung, insbesondere dem Verordnungswege,
er
assen werden dürfen. Die Zuständigkeit, Ge-
setze im materiellen Sinne, Rechtssätze zu schaffen,
ist der Legislative voll und ausschließlich übertra-
gen. In das Vorbehaltsgebiet der sormellen Ge-
setzgebung fällt nicht der Erlaß einzelner, sondern
aller Rechtssätze, sodaß andere Staatsorgane
außer der Legislative zu der Fähigkeit, gewisse
Angelegenheiten rechtssatzmäßig (durch Abgren-
ung der Willenssphären der Individuen unter
scch oder der Individuen und des Staates) zu regu-
lieren nur dadurch gelangen können, daß die Le-
gislative sie hierzu ermächtigt oder anweist.
Dies bedarf näherer Betrachtung und Begrün-
dung. Die älteren deutschen Verfassungen, na-
mentlich die bayrische v. 26. 5. 1818, Tit. VII 982
und die badische v. 22. 8. 1818, §#65 (sowie die
Entwürfe der württembergischen Verf v. 1819
und der sächsischen v. 1831, vgl. Anschütz, Gegen-
wärt. Theorien 167, O. Mayer, Sächs. Staatsr.
156 Anm. 2, ähnlich auch die preuß. V v. 22.55.1815
betr. die zu bildende Repräsentation des Volkes,
vgl. Muschuß a. a. O.) bedienen sich zur Abgren-
zung des allgemeinen Vorbehaltsgebietes der Le-
islative der Formel, daß „Gesetze, welche die
Freiye# der Personen und das
Eigentum der Staatsangehörigen betreffen“,
nur mit Zustimmung der Volksvertretung erlassen
werden dürfen. Der Sinn dieser Worte ist überall
der gleiche. Es soll nicht, wie es den Anschein hat
(„Gesetze, welche . ) das Gebiet der Gesetz-
gebung zerlegt werden in ein dem Landesherrn
allein gehöriges und ein durch die Mitwirkung
des Landtags eingeschränktes, sondern das ganze
Gebiet der Gesetzgebung im materiellen Sinne
soll der konstitutio nellen Legislative überwiesen
werden. Die „Freiheit und Eigentum“-Formel
will den Begriff des Gesetzes im materiellen Sinne
nicht einschränken, sondern definieren, sie umfaßt
nicht gewisse Rechtssätze, sondern alle —; stets
vorausgesetzt, daß man sie so wie sie gemeint ist,
nämlich weit interpretiert. „Gesetze, welche die
Gesetz
Freiheit und das Eigentum betreffen“, ist also
nur ein anderer Ausdruck für das, was der heutige
wissenschaftliche Sprachgebrauch „Gesetze im ma-
teriellen Sinne“, Rechtsnormen, Rechtssätze nennt.
Denn es ist die Eigenschaft jedes Gesetzes im
materiellen Sinne, daß es der persönlichen Frei-
heit im allgemeinen, dem Eigentum im besonde-
ren Schranken zieht: „jede Rechtsvorschrift be-
trifft die Freiheit der Personen oder das Eigen-
tum“ (Seydel St R 2 S 322, 323). Die Grenz-
linie, welche jene Formel zieht, trennt nicht ge-
wisse Rechtsnormen von gewissen andern Rechts-
normen, sondern die Rechtsnormen von den
Nicht-Rechtsnormen. Rechtsnormen, Rechtsvor-
schriften sind diejenigen Vorschriften, in denen
der Staat sich mit Geboten oder Verboten an die
Untertanen wendet, um zwischen ihnen (Privat-
recht) oder zwischen ihnen und sich (öffentliches
Recht) die Grenzen des Dürfens und Müssens
festzusetzen; — Nicht-Rechtsnormen in dem hier
vorschwebenden Sinne sind solche Vorschriften,
mittelst denen der Staat, ohne in Freiheit und
Eigentum der Untertanen einzugreifen, lediglich
die Einrichtung und das Verfahren seiner Organe
ordnet (Verwaltungsvorschriften).
Der Sinn der angegebenen Bestimmungen der
bayerischen und badischen Verfassung ist also der:
der Erlaß von Rechtsvorschriften ist der Legis-
lative vorbehalten, der der Verw Vorschriften der
vollziehenden Gewalt (Exekutive) überlassen, so
zwar, daß es der Legislative nicht verwehrt ist,
auch solche Normen, welche als Verw Vorschriften
von der Exekutive hätten erlassen werden können,
mit bindender Kraft für letztere zu erlassen, wäh-
rend umgekehrt die Exekutive niemals in den Vor-
behalt der Legislative eingreifen, Rechtsvorschrif-
ten, Gesetze im materiellen Sinne, also nur mit
formell-gesetzlicher Ermächtigung geben darf.
Hiermit stimmt die Theorie wie die Praxis des
Rechts in Bayern und Baden überein (vgl.
Seydel 316 ff, Walz, Bad. St. R. 209 nebst Zi-
taten in Anm. 1).
Die nach 1818 entstandenen deutschen Ver-
fassungen lassen die Formel „Freiheit und Eigen-
tum" meistens weg, und zwar deshalb, weil sie
überflüssig erschien. Diese Entwicklungsstufe ver-
treten zunächst die württembergische Verf v.
25. 9. 1819, § 88 und die sächsische v. 4. 9. 1831,
6#86, welche (unter Verzicht auf die in ihren Ent-
würfen noch enthaltene „Freiheit und Eigentum“-
Formel, vgl. vorigen Absatz) sich damit begnügen,
vorzuschreiben, daß ohne Zustimmung der Volks-
vertretung „kein Gesetz gegeben“ werden
darf. Dies erschien ausreichend, um dasselbe zu
sagen, was jene Formel umschreibt, nämlich: der
Weg der konstitutionellen, formellen Gesetzgebung
ist notwendig für den Erlaß aller Normen, welche
in vorkonstitutioneller Zeit schon „Gesetze“ waren
und Gesetze hießen, für den Erlaß aller Rechts-
normen (übereinstimmend die Litt. und Praxis
des württ. und sächs. Staatsrechts: Göz, Württ.
St. R. 211 mit Zitaten, O. Mayer, Sächs. St. R.
S 1556 ff, 161, 177).
Auf der gleichen Annahme der Entbehrlichkeit der
gedachten Formel beruht auch die preußische V U.
Die durch die V v. 22. 5. 1815 (vorher Z. 3 Abs2)
verheißene „Landcsrepräsentation“ trat nicht ins
Leben, vielmehr kam es vorerst nur zur Einsetzung
von Provinzialständen (Gv. 5. 6. 1823), deren