Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Zweiter Band. G bis N. (2)

  
396 
Hessen (A. Verfassungsentwicklung) 
  
Hessen 
Bundesrat 3 Stimmen — Reichstag 9 Abgeordnete 
Größe 7688,.8 qkm 
Einwohner: 1282 123 (1910), auf lkm 166,7 Einw. 
Etat für 1911: 80 097 862 Mk. 
A. Berfassungsentwicklung S. 396 
B. Behördenorganisation S. 401 
A. Verfassungsentwicklung 
5# 1. 2. Entstehung und Entwicklung bes hessischen Ge- 
samtstaates. # 3. Herrschaftssorm und Thronfolge. # 4. 
Rechtsstellung der Staatseinwohner, Adelsvorrechte. 1 5. 
Religionsgesellschaften. & 6. Gemeinden. 1 7. Landstände. 
1. Eutstehung des hessischen Gesamtstaats 
und der Laudgrafschaft Hessen-Tarmstadt. Die 
ersten Anfänge der selbständigen staatlichen Ent- 
wicklung Hessens liegen im dreizehnten Jahrhun- 
dert. Nach langem Kampfe gegen den thüringi- 
schen Landgrafen, Heinrich den Erlauchten, wurde 
im Jahre 1263 Heinrich von Brabant 
(das „Kind von Brabant") auf Grund seiner ver- 
wandtschaftlichen Rechte als erster Landgraf von 
H. anerkannt. Die Macht der hessischen Landgra- 
fen war ursprünglich allerdings gering; ihre Ge- 
rechtsame beschränkten sich anfänglich auf die 
lehensherrlichen und gerichtsherrlichen Rechte in 
den hessischen Landen, und nur ganz allmählich 
erweiterten jene durch die fortschreitende Unter- 
werfung minder mächtiger Geschlechter und durch 
mancherlei privatrechtliche Erwerbsgründe Besitz 
und Machtstellung. Eines der ersten Mittel zur 
Befestigung ihrer Macht waren die mit anderen 
Fürstenhäusern abgeschlossenen Erbverbrü- 
derungen, von denen namentlich die im Jahre 
1373 mit den thüringischen Landgrafen zum Ab- 
schlusse gelangte von dauernder Bedeutung ge- 
blieben ist. Wenn auch Teilungen unter den An- 
ehörigen des hessischen Fürstenhauses trotz jener 
bvereinigungen nicht unterblieben sind, so ge- 
lang doch mehrfach wieder der Zusammenschluß 
bereits getrennter hessischer Gebietsteile. Die 
Grundlage für die im 19. Jahrhundert zum Ab- 
schlusse gelangte Entwicklung des Kurfürstentums 
H. einerseits und des Großherzogtums H. anderer- 
seits ist das Testament Philipps des 
Großmütigen (1562), des letzten hessischen 
Landgrafen, der sich im ungeteilten Besitze aller 
hessischen Lande befunden hat, und der von seinen 
Söhnen Wilhelm IV, Ludwig IV, Philipp und 
Georg I im Jahre 1568 abgeschlossene sog. Zie- 
genhainer Erb= oder Brüderver- 
gleich. Infolge des Aussterbens der von Lud- 
wig und Philipp gegründeten Nebenlinien und 
infolge des raschen Todes der von Philipp dem 
Großmütigen ebenfalls mit einzelnen hessischen 
Gebietsteilen bedachten Grafen von Dietz, der 
Söhne aus seiner Ehe mit Margarethe von der 
Saale, gelangten die hessischen Lande nach lang- 
wierigen Erbschaftsstreitigkeiten zwischen der von 
Wilhelm 1V gegründeten Linie Hessen-Cassel und 
der auf Georg 1 zurückführenden Linie Hessen- 
Darmstadt in dem Fried= und Einig- 
keitsrezeß vom I. 4. 1648 endlich aus- 
schließlich in den Besitz jener beiden Fürsten- 
  
häuser. Die beiden hessischen Staaten gingen 
von jetzt ab ihre eigenen Wege und nahmen trotz 
mancher gemeinschaftlichen Einrichtungen, wie 
gemeinsamer Landtage und Obergerichte, die sich 
noch lange Zeit hindurch erhielten, eine selbstän- 
dige staatliche Entwicklung. 
## 2. Weitere Entwicklung des Lelsusche Staa- 
tes. Die älteste Verfassung des hessisch-darm- 
städtischen Staatswesens ist die auch schon zu 
Philipps des Großmütigen Zeiten in Gesamthessen 
althergebrachte Herrschaftssorm der ständisch- 
beschränkten Monarchie. Die Thron- 
folge, die sich in dem einstigen Gesamthessen 
ursprünglich rein nach privatrechtlichen Gesichts- 
punkten bestimmt und dadurch zu einer unheil- 
vollen Zersplitterung des Landes geführt hatte, 
wurde zu Beginn des 17. Jahrhunderts in eine 
Erbfolge nach Erstgeburt und Linien unter Be- 
schränkung auf den Mannsstamm verwandelt. 
Die Stände bestanden aus der in H. sehr zahl- 
reichen und angesehenen Ritterschaft, aus den 
Prälaten (einschließlich der mit vordem geistlichem 
Besitz begabten Universität Gießen) und aus den 
Städten, wurden indessen von den Landgrafen 
nur nach Bedürfnis berufen, regelmäßig aus 
finanziellen Gründen. Aus der Regelmäßigkeit, 
mit welcher die landesherrlichen Steuerbitten wie- 
derkehrten, entwickelte sich ein förmliches Steuer- 
bewilligungsrecht der Stände. Es ist selbst- 
verständlich, daß der tatsächliche Einfluß, den die 
Stände durch dieses Recht auf den Landesherrn 
gewannen, von jenen dazu benützt wurde, um 
diesen auch auf anderen Gebieten — sowohl auf 
dem der Rechtsetzung, wie auf dem der Verwal- 
tung — von ihren Wünschen abhängig zu machen. 
Von dem Bestehen förmlicher Rechte konnte in- 
dessen in den letztgenannten Richtungen nicht ge- 
sprochen werden. 
Das Verhältnis der Landgrasschaft H.= 
Darmstadt zum alten Deutschen Reich 
weist keine wesentlichen Besonderheiten gegenüber 
der allgemeinen Entwicklung in Deutschland auf. 
Die im Jahre 1806 erfolgte Lossagung H. vom 
alten Reich und die damit ausgesprochene Lösung 
des mehrhundertjährigen Lehensverhältnisses 
brachte tatsächlich in der Machtstellung H. gegen- 
über dem Deutschen Reich wohl kaum eine Aen- 
derung hervor. Bedeutsamer waren die rechtlichen 
Wirkungen jenes Schrittes für die Gestaltung der 
inneren Verhältnisse des Staates. Der durch den 
Anschluß H. an den Rheinbund begründete und in 
dem Patent des bisherigen Landgrafen und nun- 
mehrigen Großherzogs Ludwig v. 13. 8. 1806 
förmlich ausgesprochene Gewinn der vollen Sou- 
veränität nach Außen und Innen gab dem hessi- 
schen Landesherrn die rechtliche Möglichkeit, durch 
Aufhebung der längst unbequem gewordenen 
Landstände von dem System der Ständemonar-= 
chie alsbald zu dem des absoluten Staa- 
tes überzugehen. Die Zeiten des Absolutismus 
waren aber für den ersten hessischen Großherzog 
nicht nur der Anlaß zu einer wesentlichen Erwei- 
terung seiner Machtbefugnisse in bezug auf die 
Regierung, sondern sie machten ihm zugleich die 
Hand frei für die Aufhebung zahlreicher veralteter 
Vorrechte und für die Ablösung alter drückender 
Lasten der Bevölkerung. 
Zugleich brachten die Anfangsjahre des 19. 
Jahrhunderts mit ihrer rücksichtslosen Umwälzung
	        
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