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Hessen (A. Verfassungsentwicklung)
Hessen
Bundesrat 3 Stimmen — Reichstag 9 Abgeordnete
Größe 7688,.8 qkm
Einwohner: 1282 123 (1910), auf lkm 166,7 Einw.
Etat für 1911: 80 097 862 Mk.
A. Berfassungsentwicklung S. 396
B. Behördenorganisation S. 401
A. Verfassungsentwicklung
5# 1. 2. Entstehung und Entwicklung bes hessischen Ge-
samtstaates. # 3. Herrschaftssorm und Thronfolge. # 4.
Rechtsstellung der Staatseinwohner, Adelsvorrechte. 1 5.
Religionsgesellschaften. & 6. Gemeinden. 1 7. Landstände.
1. Eutstehung des hessischen Gesamtstaats
und der Laudgrafschaft Hessen-Tarmstadt. Die
ersten Anfänge der selbständigen staatlichen Ent-
wicklung Hessens liegen im dreizehnten Jahrhun-
dert. Nach langem Kampfe gegen den thüringi-
schen Landgrafen, Heinrich den Erlauchten, wurde
im Jahre 1263 Heinrich von Brabant
(das „Kind von Brabant") auf Grund seiner ver-
wandtschaftlichen Rechte als erster Landgraf von
H. anerkannt. Die Macht der hessischen Landgra-
fen war ursprünglich allerdings gering; ihre Ge-
rechtsame beschränkten sich anfänglich auf die
lehensherrlichen und gerichtsherrlichen Rechte in
den hessischen Landen, und nur ganz allmählich
erweiterten jene durch die fortschreitende Unter-
werfung minder mächtiger Geschlechter und durch
mancherlei privatrechtliche Erwerbsgründe Besitz
und Machtstellung. Eines der ersten Mittel zur
Befestigung ihrer Macht waren die mit anderen
Fürstenhäusern abgeschlossenen Erbverbrü-
derungen, von denen namentlich die im Jahre
1373 mit den thüringischen Landgrafen zum Ab-
schlusse gelangte von dauernder Bedeutung ge-
blieben ist. Wenn auch Teilungen unter den An-
ehörigen des hessischen Fürstenhauses trotz jener
bvereinigungen nicht unterblieben sind, so ge-
lang doch mehrfach wieder der Zusammenschluß
bereits getrennter hessischer Gebietsteile. Die
Grundlage für die im 19. Jahrhundert zum Ab-
schlusse gelangte Entwicklung des Kurfürstentums
H. einerseits und des Großherzogtums H. anderer-
seits ist das Testament Philipps des
Großmütigen (1562), des letzten hessischen
Landgrafen, der sich im ungeteilten Besitze aller
hessischen Lande befunden hat, und der von seinen
Söhnen Wilhelm IV, Ludwig IV, Philipp und
Georg I im Jahre 1568 abgeschlossene sog. Zie-
genhainer Erb= oder Brüderver-
gleich. Infolge des Aussterbens der von Lud-
wig und Philipp gegründeten Nebenlinien und
infolge des raschen Todes der von Philipp dem
Großmütigen ebenfalls mit einzelnen hessischen
Gebietsteilen bedachten Grafen von Dietz, der
Söhne aus seiner Ehe mit Margarethe von der
Saale, gelangten die hessischen Lande nach lang-
wierigen Erbschaftsstreitigkeiten zwischen der von
Wilhelm 1V gegründeten Linie Hessen-Cassel und
der auf Georg 1 zurückführenden Linie Hessen-
Darmstadt in dem Fried= und Einig-
keitsrezeß vom I. 4. 1648 endlich aus-
schließlich in den Besitz jener beiden Fürsten-
häuser. Die beiden hessischen Staaten gingen
von jetzt ab ihre eigenen Wege und nahmen trotz
mancher gemeinschaftlichen Einrichtungen, wie
gemeinsamer Landtage und Obergerichte, die sich
noch lange Zeit hindurch erhielten, eine selbstän-
dige staatliche Entwicklung.
## 2. Weitere Entwicklung des Lelsusche Staa-
tes. Die älteste Verfassung des hessisch-darm-
städtischen Staatswesens ist die auch schon zu
Philipps des Großmütigen Zeiten in Gesamthessen
althergebrachte Herrschaftssorm der ständisch-
beschränkten Monarchie. Die Thron-
folge, die sich in dem einstigen Gesamthessen
ursprünglich rein nach privatrechtlichen Gesichts-
punkten bestimmt und dadurch zu einer unheil-
vollen Zersplitterung des Landes geführt hatte,
wurde zu Beginn des 17. Jahrhunderts in eine
Erbfolge nach Erstgeburt und Linien unter Be-
schränkung auf den Mannsstamm verwandelt.
Die Stände bestanden aus der in H. sehr zahl-
reichen und angesehenen Ritterschaft, aus den
Prälaten (einschließlich der mit vordem geistlichem
Besitz begabten Universität Gießen) und aus den
Städten, wurden indessen von den Landgrafen
nur nach Bedürfnis berufen, regelmäßig aus
finanziellen Gründen. Aus der Regelmäßigkeit,
mit welcher die landesherrlichen Steuerbitten wie-
derkehrten, entwickelte sich ein förmliches Steuer-
bewilligungsrecht der Stände. Es ist selbst-
verständlich, daß der tatsächliche Einfluß, den die
Stände durch dieses Recht auf den Landesherrn
gewannen, von jenen dazu benützt wurde, um
diesen auch auf anderen Gebieten — sowohl auf
dem der Rechtsetzung, wie auf dem der Verwal-
tung — von ihren Wünschen abhängig zu machen.
Von dem Bestehen förmlicher Rechte konnte in-
dessen in den letztgenannten Richtungen nicht ge-
sprochen werden.
Das Verhältnis der Landgrasschaft H.=
Darmstadt zum alten Deutschen Reich
weist keine wesentlichen Besonderheiten gegenüber
der allgemeinen Entwicklung in Deutschland auf.
Die im Jahre 1806 erfolgte Lossagung H. vom
alten Reich und die damit ausgesprochene Lösung
des mehrhundertjährigen Lehensverhältnisses
brachte tatsächlich in der Machtstellung H. gegen-
über dem Deutschen Reich wohl kaum eine Aen-
derung hervor. Bedeutsamer waren die rechtlichen
Wirkungen jenes Schrittes für die Gestaltung der
inneren Verhältnisse des Staates. Der durch den
Anschluß H. an den Rheinbund begründete und in
dem Patent des bisherigen Landgrafen und nun-
mehrigen Großherzogs Ludwig v. 13. 8. 1806
förmlich ausgesprochene Gewinn der vollen Sou-
veränität nach Außen und Innen gab dem hessi-
schen Landesherrn die rechtliche Möglichkeit, durch
Aufhebung der längst unbequem gewordenen
Landstände von dem System der Ständemonar-=
chie alsbald zu dem des absoluten Staa-
tes überzugehen. Die Zeiten des Absolutismus
waren aber für den ersten hessischen Großherzog
nicht nur der Anlaß zu einer wesentlichen Erwei-
terung seiner Machtbefugnisse in bezug auf die
Regierung, sondern sie machten ihm zugleich die
Hand frei für die Aufhebung zahlreicher veralteter
Vorrechte und für die Ablösung alter drückender
Lasten der Bevölkerung.
Zugleich brachten die Anfangsjahre des 19.
Jahrhunderts mit ihrer rücksichtslosen Umwälzung