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schiedenartigsten politischen Gebilde vergrößerten
Staatswesen zu einheitlichen Staaten zusammen-
zuschweißen, war die Schaffung einheitlichen
Rechts und einheitlicher Pflichten für alle Ange-
hörigen ihrer Staaten. In diesem Sinne hatte in
H. schon die Zeit des aufgeklärten Absolutismus
gearbeitet und in diesem Sinne bringt auch die
hessische Verfassungsurkunde, dem dringenden
Verlangen der bei der Entstehung der Verfassung
beteiligten Volksvertreter entsprechend, eine reich-
haltige Zusammenstellung sogenannter Grund-
rechte des Volks, die jedem Staatsangehörigen
in gleicher Weise ein gewisses Mindestmaß persön-
licher, sozialer und wirtschaftlicher Freiheit gegen-
über aller und jeder öffentlichen Gewalt verbrief-
ten (vgl. Anschütz, Die gegenwärtigen Theorien
über den Begriff der gesetzgebenden Gewalt usw.,
21901 Sôof). Die wichtigsten Rechte, die die Ver-
fassung nennt, sind die Gleichheit vor dem Gesetze,
namentlich in bezug auf das Prozeßverfahren und
in bezug auf die Zulassung zum Staatsdienst,
Gleichheit aller politischen und bürgerlichen Rechte
und Kultusfreiheit der staatlich anerkannten christ-
lichen Konfessionen, Gewissensfreiheit für jeden
Staatseinwohner, Freiheit der Person und des
Eigentums. Die Pflichten, die mit diesen Rechten
korrespondieren, sind Kriegsdienst= und Steuer-
pflicht, woran seit 1820 — vorbehaltlich der ver-
fassungsmäßig zugelassenen Ausnahmen zugunsten
der Standesherrn — alle Staatsangehörigen in
gleicher Weise teilnehmen. Der Bestand jener „all-
gemeinen Rechte und Pflichten der Hessen“ hat
seit der Entstehung der hessischen Verfassung teils
durch das Landesrecht, teils durch das Eingreifen
der Reichsgesetzgebung manche Erweiterung er-
fahren. Die wichtigsten landesrechtlichen Neue-
rungen brachte das G v. 7. 8. 48, welches jedem
(auch dem nichtchristlichen) Staatseinwohner die
freie und öffentliche Ausübung seincs religiösen
Kultus und die Gleichheit hinsichtlich der Aus-
übung aller politischen oder bürgerlichen Rechte
und Rechtshandlungen garantierte. Mit diesem
Gesetze fiel namentlich auch der die „nicht christli-
chen Glaubensgenossen“ in bezug auf den Erwerb
des Staatsbürgerrechts benachteiligende à 15 der
hessischen Verfassung.
Einer privilegierten Rechtsstellung erfreuen
sich unter allen Staatsbewohnern nur noch die
standesherrlichen Familien und die
Angehörigen des niederen Adels.
Die Vorrechte der standesherrlichen
Familien beruhten ursprünglich auf dem
wenige Wochen vor dem Verfassungsedikte er-
lassenen und hierauf in der Verfassungsurkunde
selbst ausdrücklich aufrechterhaltenen Edikt v. 17.
2. 1820, wurden sodann durch Gv. 7. 8. 48 nahezu
vollständig beseitigt, endlich aber durch G v. 18.
7. 58 zu einem großen Teile wieder erneuert.
Die dort genannten Rechte hoher Adcl, Eben-
bürtigkeit, bestimmte Prädikate, besonderer Ge-
richtsstand 2c.]) kommen z. T. nur den Häup-
tern der standesherrlichen Familien, z. T.
sämtlichen Familienmitgliedern zu.
Die Privilegierung des niederen Adels,
der ursprünglich eine ähnliche Rechtsstellung wie
der hohe Adel genossen hatte, durch das Gv.
7. 8. 48 aber seine Vorrechte zum größten Teile
endgültig verlor, beschränkt sich auf ein bevor-
zugtes Wahlrecht zur Ersten Kammer. Die Vu
Hessen (A. Verfassungsentwicklung)
hatte den niedrigen Adel zunächst in die zweite
Kammer verwiesen, die unter ihren fünfzig Mit-
gliedern sechs Abgeordnete zählte, welche „der in
dem Großherzogtum genügend mit Grundeigen-
tum angesessene Adel“ aus seiner Mitte zu wäh-
len hatte; die spätere Gesetzgebung versetzte je-
doch die Angehörigen des niederen Adels in die
Erste Kammer und verminderte zugleich ihre Zahl
auf zwei.
Eine eigenartige Sonderstellung nimmt die
Familie der Freiherrn von Riedesel
zu Eisenbach ein, deren Senior mit Rücksicht
auf das seit Jahrhunderten in der Familie erbliche
Landmarschallenamt und auf den außerordentlich
großen Grundbesitz der Familie seit dem Bestehen
der Verfassung den Anspruch auf die Mitglied-
schaft in der Ersten Kammer besitzt.
## 5. Die Rechtsstellung der Religionsgesell-
schaften. Die Regelung des Verhältnisses zwischen
dem Staat und den Religionsgesellschaften ist in
H. in der Weise erfolgt, daß der Staat von sich aus
einseitig die Grenzen der kirchlichen Befugnisse
feststellte. Den staatlich anerkannten kirchlichen
Korporationen steht hiernach das „jus in sacra“,
dem Staate dagegen das „jus circa sacra“ über
alle Kirchen und sonstigen Religionsgemeinschaf-
ten zu. Die Vl selbst beschränkt sich auf die Auf-
stellung einiger weniger leitender Grundsätze:
Sie stellt die innere Kirchenverfassung und das
Kirchenvermögen unter den Schutz der politischen
Verfassung und sichert jene dadurch vor jedem
willkürlichen Eingriff, von welcher Seite her er
auch kommen möge;z andererseits beansprucht der
Staat für sich das Recht des Plazets für Anord-
nungen der Kirche, und zwar ursprünglich (a 40
Vu), für alle kirchlichen Anordnungen, seit der
Gesetzgebung von 1875 (G v. 23. 4. 75, die recht-
liche Stellung der Kirchen usw. betr., a 5) jedoch
nur noch in folgendem Umfange: „Alle kirchlichen
Verordnungen müssen gleichzeitig mit der Ver-
kündigung der Staatsregierung mitgeteilt wer-
den. Keine Verordnung der Kirchen oder Reli-
gionsgemeinschaften kann in Beziehung auf bür-
gerliche oder staatsbürgerliche Verhältnisse recht-
liche Geltung in Anspruch nehmen oder in Voll-
zug gesetzt werden, bevor sie die Genehmigung des
Staats erhalten hat.“ Weitere Schutzmittel, die
der Staat gegenüber etwaigen Uebergriffen der
Kirchen geschaffen hat, sind die verfassungsmäßige,
durch die spätere Gesetzgebung erweiterte Ge-
wissensfreiheit und Kultusfreiheit und die Be-
stimmungen über die Beschwerde wegen Miß-
brauchs der geistlichen Amtsgewalt (Vu aà 39—44
und die Gesetze v. 23. 4. 75 sowie v. 7. H. 89).
Die Stellung von staatlich anerkannten Reli-
gionsgenossenschaften haben zur Zeit die evan-
gelische Kirche (Lutheraner, Reformierte
und Unierte), die katholische Kirche
und die Altkatholikenz; jedoch ist die Stel-
lung der letzteren gegenüber dem Staat einer-
seits und der katholischen Kirche andererseits nicht
klar geregelt. Das Judentum als solches
besitzt in H. keine korporative Organisation, jedoch
besteht eine vom Staate anerkannte Einteilung
in Landjudenschaften, Rabbinatsbezirke, Reli-
gionsgemeinden und Religionsgesellschaften (letz-
tere sind allerdings keine öffentlichrechtlichen Ver-
einigungen), welche auch bei der Geltendmachung