Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Zweiter Band. G bis N. (2)

Hessen (Gemeinden; Landstände) 
der staatlichen Oberaufsicht von praktischer Be- 
deutung ist (s. auch #10, II). 
+6. Rechtsstellung der Gemeinden. Die Stel- 
lung der Gemeinden gegenüber dem Staat hat seit 
Beginn des neunzehnten Jahrhunderts große 
Wandlungen durchgemacht. Der aufgeklärte Ab- 
solutismus betrachtete und behandelte die Ge- 
meinden im wesentlichen als Staatsanstalten, die 
durch staatliche Beamte nach staatlichen Grund- 
sätzen verwaltet wurden. Es fehlte jede feste Ab- 
grenzung zwischen staatlicher und gemeindlicher 
Verwaltung. Tatsächlich war es die Regierung, 
welche nach ihrem freien Ermessen die Verw Grund- 
sätze für die Gemeinden aufstellte und die Ver- 
waltung der Gemeinden leitete. In der Ver- 
fassungsbewegung der Jahre 1815 bis 1820 spielte 
deshalb auch das Verlangen nach einer freiheit- 
lichen Regelung des Gemeinderechts eine große 
Rolle, und die BVl stellte den Erlaß einer Gemein- 
deordnung in Aussicht. Das in der Hauptsache 
nach französischem Vorbild gestaltete G v. 30. 6. 
1821 brachte zwar noch keineswegs die erhoffte 
volle Freiheit von der staatlichen Bevormundung. 
Doch gab es den Gemeinden des ganzen Landes 
eine einheitliche, in dem kurz zuvor erworbenen 
Rheinhessen schon länger bestehende und als 
zweckmäßig geschätzte, Organisation und befreite 
die Gemeinden — namentlich auf dem Gebiete der 
Vermögensverwaltung — von den beengenden Ein- 
schränkungen, unter denen sie bisher in ihrer 
Rechtsstellung als „Minderjährige“ gelitten hatten. 
Die eigentliche Modernisierung des hessischen 
Gemeinderechts erfolgte nach manchen rückschritt- 
lichen Maßnahmen (1852, 1858) und mehrsachen 
kleineren Abänderungen endlich unter starker An- 
lehnung an preußische Vorbilder im Jahre 1874. 
Die drei G v. 12., 13. und 15. 6. 74, betreffend 
„die innere Verwaltung und die Vertretung der 
Kreise und der Provinzen“, „die Städteordnung“ 
und „die Landgemeindeordnung"“ stellten das ge- 
samte Gemeinderecht auf eine neue Grundlage. 
Das leitende Prinzip dieser Gesetze ist einmal 
die Heranziehung des Volks zur 
Teilnahme an der Verwaltung, 
und zwar nicht nur an der Gemeindeverwal- 
tung, sondern auch an der Staatsverwaltung, 
zum andern die Beschränkung der staat- 
lichen Befugnisse gegenüber den 
Gemeinden auf bestimmte, im Gesetze aus- 
drücklich angeführte oberaufsichtliche Kompetenzen. 
Und zwar gelten diese beiden obersten Verw Grund- 
sätze seitdem nicht nur für die damals bereits be- 
stehenden Ortsgemeinden, die mit Rücksicht auf 
die Bevölkerungsziffer nun in Stadt= und Land- 
gemeinden geschieden wurden, sondern auch für 
die neugeschaffenen Kreis= und Provinzialver- 
bände (+(lI. Tie kommunalen Selbstverwaltungs- 
organe der höheren Kommunalverbände wurden 
zum Teile gleichzeitig zu staatlichen Selbstverwal- 
tungsorganen gemacht, indem der Staat den 
nach preußischem Vorbild gestalteten Kreisaus- 
schüssen und Provinzialausschüssen neben ihren 
kommunalen Ausgaben zugleich eine Reihe wich- 
tiger rein staatlicher Geschäfte, namentlich auf 
dem Gebiete der Verwechtspflege (Nl übertrug. 
Die Reformgesetze vom 8. 7. 11 haben die be- 
währten Grundsätze von 1874 unter mancherlei 
Verbesserungen beibehalten. — Im übrigen K Ge- 
  
  
meinde, Kreis, Provinz und unten B F## 1I, 12. 
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# 7. Die Landstände. 
I. Die organische Stellung der im Jahre 1820 
neugeschaffenen hessischen Landstände entspricht 
in allen wesentlichen Zügen dem Bilde, welches 
uns die deutschen Volksvertretungen in ihrer gro- 
ßen Mehrzahl zeigen. Die hessische Volksvertre- 
tung ist in zwei Kammern gegliedert, die zusam- 
men ein einheitliches Staatsorgan — „die Land- 
stände" oder „die Stände“" genannt — bilden; der 
Ausdruck „Landtag" dient nur zur Bezeichnung 
der Stände versammlung (ovgl. z. B. 
à 75, 84, 85 der hess. Verf). Beide Kammern ha- 
ben hinsichtlich ihrer Zusammensetzung im Laufe 
der Jahre mancherlei Wandlungen erfahren, ha- 
ben aber insofern ihren Grundcharakter beibehal- 
ten, als die Erste Kammer eine an die alten Land- 
stände erinnernde ständische Gliederung zeigt, 
während die Zweite Kammer eine reine „Volks- 
kammer ist. Die wichtigsten Wendepunkte in be- 
zug auf die Zusammensetzung der beiden land- 
ständischen Kammern und auf die Wahlen der Ab- 
geordneten werden durch die G v. 3. 9. 49, v. 
6. 9. 56, v. 8. 11. 72 und — nach jahrelangen 
Kämpfen — v. 3. 6. 11 bezeichnet. Auch eine 
Periode des Dreiklassenwahlsystems hat in der 
Entwicklungsreihe vom indirekten Wahlsystem der 
Vu bis zu dem direkten, allgemeinen Wahlrecht 
der Wahlreform von 1911 nicht gefehlt! 
II. Die organischen Funktionen der hessischen 
Volksvertretung sind zunächst in negativer Rich- 
tung durch die ausdrückliche Bestimmung der VU 
(à 66) charakterisiert, daß die Landstände sich nur 
mit denjenigen Angelegenheiten befassen dürfen, 
die ihnen ausdrücklich überwiesen sind. Dieser 
Grundsatz bildet das Gegenspiel zu dem oben ge- 
nannten monarchischen Prinzip (vgl. àa 57 Wiener 
Schlußakte). Hiernach spricht die Präsumption 
der Zuständigkeit in Zweifelsfällen gegen die 
Zuständigkeit der Landstände und für diejenige 
des Landesherrn. 
Im einzelnen liegen die Kompetenzen der 
Stände teils auf dem Gebiete der Recht- 
e bung, teils auf demjenigen der Verwal- 
ung. 
1. Was das Gebiet der Rechtse tung an- 
langt, so waren hier die Stände ursprünglich 
von verfassungswegen von der Gesetzesinitiative 
ausgeschlossen und sahen sich ausschließlich auf die 
Mitwirkung bei der Festsetzung des Gesetzesinhal- 
tes beschränkt (a 66, 72), später (Go. 17. 6. 74 a 19) 
wurde ihnen aber auch das erstgenannte Recht zu- 
gestanden. Der bestimmende Anteil der Volks- 
vertretung bei der Neuschaffung, Aufhebung, Ab- 
änderung oder „authentischen Auslegung" von 
Gesetzen (im materiellen Sinn) findet seinen Ans- 
druck in den Worten der Verfassung (a 72): „Ohne 
Zustimmung der Stände kann kein Gesetz, auch in 
bezug auf das Landes-Polizey-Wesen, gegeben, 
aufgehoben oder abgeändert werden". „Wenn 
bei bestehenden Gesetzen die doctrinelle Auslegung 
nicht hinreicht, so tritt nicht authentische Ausle- 
gung, sondern die Nothwendigkeit einer neuen Be- 
stimmung, durch einen Act der Gesetzgebung ein“. 
Eine gewisse Bestätigung und Bekräftigung er- 
fährt diese Kompetenzbestimmung durch die, ihr 
gegenüber als Ausnahme erscheinende, Regelung 
des landesherrlichen Rechtsverordnungsrechts (a 
3). 
Die beiden Kammern bilden zusammen ein ein-
	        
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