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heitliches Staatsorgan, so daß also in der Regel
nur dann ein staatsrechtlich relevanter Akt der
Volksvertretung vorliegt, wenn die beiden Kam-
mern übereinstimmende Mehrheitsbeschlüsse ge-
faßt haben. Dieser Grundsatz hat jedoch einige
Modifikationen erfahren, von welchen namentlich
die nachgenannte eine eigenartige Besonderheit
des hessischen Rechts gegenüber dem Verfassungs-
recht aller übrigen deutschen Staaten darstellt:
Wenn ein Gesetzesvorschlag der Regierung auf
zwei aufeinander folgenden Landtagen von der
einen Kammer angenommen, von der anderen
Kammer aber abgelehnt worden ist, kann die Re-
ierung verlangen, daß in einer gemeinschaftlichen
Versacmlung der beiden Kammern unter dem
Vorsitz des Präsidenten der Ersten Kammer noch-
mals über den Gesetzesvorschlag verhandelt und
abgestimmt wird. Geschieht dies, so werden nun
nicht mehr die Stimmen jeder der beiden Kam-
mern für sich abgezählt, sondern es findet eine so-
eenannte Durchzählung d. h. eine Zusammenzäh-
ung der in beiden Kammern für und bezw. gegen
den Gesetzentwurf abgegebenen Stimmen statt.
Hierbei genügt zur Annahme des Gesetzentwurfs
die einfache Stimmenmehrheit der in der gemein-
samen Sitzung anwesenden Mitglieder beider
Kammern, soferne bei der letzten gesonderten Ab-
stimmung der beiden Kammern in der den Gesetz-
entwurf annehmenden Kammer die Annahme mit
Zweidrittelmajorität erfolgt war; andernfalls sind
zur Annahme des Gesetzes zwei Drittel der in der
emeinsamen Sitzung abgegebenen Stimmen er-
orderlich. Bei Stimmengleichheit entscheidet die
Stimme des Präsidenten der Zweiten Kammer.
— Es ist kein Zweifel, daß diese Bestimmung,
welche in ähnlicher Gestalt schon seit dem Erlasse
der Verfassung (a 75) bestand, und auf deren Bei-
behaltung und präzisere Ausgestaltung im Sinne
eines besonderen Vorrechts der Krone bei der Ver-
fassungsrevision von 1911 großes Gewicht gelegt
wurde, unter Umständen von großer praktischer
Bedeutung werden kann. In ihrer früheren Ge-
stalt ist die Vorschrift des a 75 nur ein einziges
Mal zur Anwendung gekommen.
2. Unter den Befugnissen der Volksvertretung
auf dem Gebiete der Verwaltung ist von
überragender Bedeutung die Mitwirkung der
Stände bei der Feststellung des Staats-
haushaltsetats. Das ständische Budget-
recht zeigt in Hessen ähnlich wie in den übrigen
deutschen Staaten eine unverkennbare Anlehnung
an das Steuerbewilligungsrecht der alten Land-
stände. Das Finanzgesetz, dessen alljährliche Vor-
lage an die Stände der a 67 der H. Verf befiehlt, ist
nichts anderes als die alte Steuervorlage, um
deren Genehmigung einst der hessische Landgraf
seine Landstände bitten mußte, wenn er Steuern
ausschreiben oder erheben wollte. „Ohne Zu-
stimmung der Stände kann keine direkte oder in-
direkte Auflage ausgeschrieben oder erhoben wer-
den.“ Der Ausgangspunkt der budgetrechtlichen
Befugnisse der Volksvertretung ist also in H. —
anders als in Preußen und im Deutschen Reich —
nicht etwa eine Bestimmung des Inhalts, daß
sämtliche Staatseinnahmen und sämtliche Staats-
ausgaben von der periodisch einzuholenden Zu-
stimmung der Volksvertretung abhängig gemacht
wurden. Demgemäß hat auch das hessische Finanz-
gesetz seiner ursprünglichen Bedeutung nach nicht
Hessen (A. Verfassungsentwicklung)
den Charakter eines Etatsgesetzes, in dem Sinne,
daß alle, aber auch nur diejenigen Ausgaben und
Einnahmen staatsrechtlich zulässig sind, welche in
diesem Gesetze aufgeführt wurden, sondern es hat
lediglich die Aufgabe, das Recht der Regierung zu
konstituieren, Steuern von der im Gesetze bestimm-
ten Art und Höhe zu erheben. Der, eine Beilage
des Finanzgesetzes bildende, Einnahmen= und Aus-
gabenetat ist nichts anderes als die von den Stän-
den als richtig anerkannte Begründung zu der
Steuervorlage der Regierung, dessen rechtliche
Bedeutung ursprünglich nur darauf beruhte, daß
er von der Regierung auf Grund der zwischen ihr
und den Ständen getroffenen Steuervereinba-
rung als bindende Grundlage für die Führung der
staatlichen Finanzverwaltung anerkannt wird.
Erst durch das am 14. 6. 79 nach dem Vorbild des
Entwurfs für ein Reichsetatgesetz (aus dem Fe-
bruar 1877) erlassene und dem System des hessi-
schen Budgetrechts daher wesensfremde Gesegtz, die
Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben des
Staates betreffend, wurden detaillierte Bestim-
mungen getroffen, welche die Regierung aus-
drücklich und unmittelbar durch Gesetz an die ge-
naue Einhaltung des Etats binden. Indessen muß
im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte des
hessischen Budgetrechts und die parallele Entwick-
lung des bayrischen und des badischen Budget-
rechts daran festgehalten werden, daß durch das
soeben angeführte sog. Etatgesetz von 1879 keine
Aenderung der verfassungsmäßigen Grundlagen
(a 67 hess. Verf) des hessischen Budgetrechts her-
beigeführt werden wollte. Die Bestimmungen des
Gesetzes von 1879 sind demnach nur für den Fall
des Zustandekommens einer ordnungsmäßigen
Budgetvereinbarung anzuwenden. Kommt eine
solche nicht zustande, so beschränkt sich der budget-
rechtliche Einfluß der Stände auf die verfassungs-
mäßige Mitwirkung bei der Schaffung des Auf-
lagegesetzes, das heißt auf die. Bewilligung der
Staatsauflagen. In letzterer Beziehung aber
sind die Landstände insoweit frei, als nicht be-
stimmte Steuereinnahmen zufolge bestehender
Gesetze erhoben werden müssen, und als es sich nicht
um die Beschaffung von Deckungsmitteln für an-
dernfalls ungedeckt bleibende Staatsausgaben
handelt, deren rechtliche Notwendigkeit unbedingt
feststeht. «
Für das Verfahren der Etatsaufstellung be-
steht in H. ähnlich wie in Baden und anderen
Staaten von jeher eine Bevorzugung der zweiten
Kammer gegenüber der ersten. Die Verf Revision
von 1911 brachte in dieser Richtung jedoch einige
nicht unwesentliche Aenderungen des bisherigen
Rechts zugunsten der Ersten Kammer, welche die
Erweiterung und Sicherstellung ihrer budgetrecht-
lichen Befugnisse zur Bedingung ihrer Zustim-
mung zu der Einführung des direkten Wahlrechts
gemacht hatte. Ueber das, was nach dem G v.
3. 6. 11, die Abänderung der a 67 und 75 der VU
usw. betreffend, in dieser Beziehung nunmehr
rechtens ist, JI Landtag, Gesetz, Staatshaushalt.
Als bemerkenswerte Steigerung des Einflusses der
1. Kammer ist namentlich folgende Bestimmung
hervorzuheben: Erfordert ein Gegenstand einen
Gesamtkostenaufwand von mehr als 200 000 Mk.,
der im Wege der Anleihe gedeckt werden soll, so
sind die Mittel nicht im Hauptvoranschlage an-
zufordern, sondern in einer besonderen Gesetzes-