Grundzüge der theoretischen Volkswirtschaftslehre 327
binnen ganz kurzer Frist die gleichen Unterschiede von Reich und Arm
wieder hervortreten müßten. Eine Ordnung der Einkommensverhält—
nisse durch die Staatsgewalt, wie die sozialistische Partei sie anstrebt,
wäre nur unter Beseitigung jeder persönlichen Freiheit, die wir doch
als eines unserer edelsten Güter schätzen, möglich; überdies würde
eine vollkommen gerechte Verteilung des Einkommens durch die Be—
hörde über die menschliche Kraft hinausgehen. Der Staat muß sich
deshalb darauf beschränken, durch seine Gesetzgebung (z. B. durch die
Erbrechtsgesetzgebung, durch die Besteuerung und durch die Arbeiter—
schutzgesetzgebung) die am meisten fühlbaren Härten zu mildern. So
sehr übrigens eine allzugroße Ungleichheit der Einkommensverhält—
nisse zu beklagen ist, da sie einerseits unverhältnismäßigen Luxus
begünstigt, anderseits den Mittelstand verdrängt und die untersten
Klassen zu einer unzureichenden Lebenshaltung verurteilt, so wäre
doch auch eine allzu gleiche Verteilung des Besitzes im Interesse einer
kräftigen wirtschaftlichen Fortentwicklung nicht einmal besonders wün-
schenswert; denn erfahrungsgemäß werden die meisten Kulturfort-
schritte nicht etwa durch die große Masse angebahnt, sondern durch
einzelne, die an Besitz, Bildung und Leistungsfähigkeit hervorragen.
2. Der Arbeitslohn.
Der Arbeitslohn (bei höheren Dienstleistungen auch Gehalt oder
Honorar genannt) kann entweder in Naturprodukten bezahlt werden,
wie dies in früheren Zeiten überwiegend geschah (sog. Natural-
lohn), oder er wird in Geld entrichtet (Geldlohn).
Neben dem nach der Arbeitszeit bemessenen, früher allgemein
üblichen Lohn, dem sog. Zeitlohn (Tagelohn, Wochenlohn, Jahres-
lohn), hat sich mit der Entwicklung des Maschinenbetriebs der
Stücklohn oder Akkordlohn stark eingebürgert, bei welchem
der Arbeiter nach dem Maße der geleisteten Arbeit bezahlt wird, z. B.
nach der Zahl der ausgehobenen Kubikmeter Erde oder der zutage
geförderten Zentner Kohle oder der gewebten Meter Band. Dieses
Stücklohnsystem hat den Vorteil, daß es den Fleiß der Arbeiter an-
spornt und deren ständige Beaufsichtigung entbehrlich macht. Ander-
seits bringt es häufig die Gefahr einer Verschlechterung der Arbeit
und einer freiwilligen Ueberanstrengung der Arbeiter mit sich.
Man hat auch schon wiederholt das Interesse der Arbeiter an den
Unternehmungen anzuregen und den zwischen ihnen und den Unter-
nehmern bestehenden Gegensatz zu überbrücken gesucht dadurch, daß
man den Arbeitern neben ihrem Lohne einen Teil des Reingewinns
(bis zu 20 Prozent) zusicherte. Erhebliche praktische Bedeutung haben
diese Versuche jedoch nicht erlangen können, weil der Arbeiter den
Hauptteil seines Lohnes sofort zu seiner Lebensführung braucht und
998
999
1000
1001