Verfassungsurkunde. 8 7I. 127
8 71. Kirchliche Autonomie.
Die Anordnungen in Betreff der innern kirchlichen Ange—
legenheiten bleiben der verfassungsmäßigen Autonomie einer
jeden Kirche überlassen.
1. Die Autonomie schließt in sich die kirchliche Gesetzgebung
und das Kirchenregiment; weitere Bestimmungen über das letztere
enthält für die evangelische Kirche der § 75, für die katholische
Kirche der § 78; ihre Schranke findet die Autonomie in dem staat-
lichen Schutz= und Aufsichtsrecht über die Kirchen (§ 72. Die Art
und Weise, wie die Autonomie auszuüben ist, die Verfassungs-
mäßigkeit der Autonomie, richtet sich in erster Linie nach kirch-
lichen Gesetzen, nach den Gesetzen der in Frage stehenden Kirche
(ogl. § 75). Ueber die Grenzlinie zwischen den innerkirchlichen An-
gelegenheiten einer Kirche und den bürgerlich-staatlichen Angelegen-
heiten können zwischen der beteiligten Kirche und dem Staat Mei-
nungsverschiedenheiten und Streitigkeiten entstehen; das entscheidende
Wort bei der Bereinigung solcher Grenzstreitigkeiten gebührt den
staatlichen Organen.
2. Die Abscheidung staatlicher und kirchlicher Befugnisse ist mit
besonderen Schwierigkeiten verbunden bei den sog. gemischten
Gegenständen, die eine staatliche und eine kirchliche Seite bie-
ten. Auf dem wichtigsten Gebiete der Ehesachen ist mit der
Einführung der obligatorischen Civilehe durch Reichsgesetz vom
6. Februar 1875 der staatliche und kirchliche Wirkungskreis grund-
sätzlich geschieden worden. Das jetzt geltende Bürgerliche Gesetzbuch
geht von der ausschließlichen Zuständigkeit des Staats für die
rechtliche Seite der Ehe aus und schafft ein einheitliches bürger-
liches Eherecht für die Angehörigen sämtlicher Glaubensbekennt-
nisse; daneben überläßt es die Wahrung der kirchlichen Verpflich-
tungen in Ansehung der Ehe, die gemäß § 1588 unberührt bleiben,
dem Gewissen des einzelnen und den verfassungsmäßigen Anord-
nungen der beteiligten Kirchen.