Full text: Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen vom Jahre 1860. (26)

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II. Alle Gesuche um Aufnahme taubstummer Kinder in eine Taubstummenanstalt sind 
von den dabei betheiligten Personen nie unmittelbar bei dem Ministerium des Cultus und 
öffentlichen Unterrichts anzubringen, sondern zunächst bei der Ortsobrigkeit (Gerichtsamt oder 
Stadtrath), in deren Bezirke sich ein solches Kind befindet, welche vor der dießfallsigen Berichts- 
erstattung zuvörderst in Gemäßheit nachstehender Anweisungen hierauf die weiteren Erörterun- 
gen anzustellen hat. n⅜„ 
Es ist nämlich 
III. bei allen taubstummen, d. h. solchen Kindern, welche in Folge angeborener oder doch 
in den ersten Kinderjahren entstandener Taubheit sprachlos geblieben sind, die physische und 
psychische Integrität derselben zu untersuchen und nachzuweisen, daß sie in dem Grade gesund 
seien, daß sie in einer Taubstummenanstalt ausgebildet werden können und daß die Anstalt 
durch ihre Verpflegung und durch ihren Unterricht keine Störung erleide. 
a) In Beziehung auf die physische Integrität ist insbesondere zu untersuchen: 
ob das Kind frei sei von allen der Schule mit öfteren und anhaltenden Unterbrech- 
ungen oder mit Ansteckung drohenden Uebeln, besonders von Epilepsie, ekelhaften 
Ausschlägen und anderen chronischen Krankheiten, und ob es entweder die natürlichen 
Blattern gehabt habe oder mit zu erweisendem Erfolge geimpft worden sei. 
Ueber alle diese Punkte ist ein amtliches gerichtsärztliches Zeugniß und der Impfschein 
beizubringen. 
b) Was die zur Schulbildung und namentlich auch zur Sprachbildung eines Taubstum- 
men erforderliche psychische Integrität betrifft, so ist bei der Untersuchung und Beurtheilung 
auf folgende Umstände zu achten: 
1) ob das Kind einen von einem erfahrenen Physiognomen wohl zu erkennenden gei- 
stigen Blick und dabei eine gute Haltung des Körpers, sowie einen leichten, nicht 
schleppenden Gang habe; 
2) ob es Aufmerksamkeit auf Dasjenige zeige, was neu für dasselbe in seinen 
Umgebungen ist oder geschieht, ob es ferner seinen Gefühlsinn vervollkommnet habe, 
namentlich wo derselbe den Gehörsinn einigermaaßen vertreten kann, und ob es also 
auf Erschütterungen, die sich durch einen in seiner Nähe erregten Schall auf seinen 
Körper fortpflanzen, achte, nicht minder ob es die Gegenstände nach ihren Merk- 
malen auffasse und, falls sie seinen Sinnen nicht mehr gegenwärtig sind, durch 
irgend eine ausdrucksvolle pantomimische Bezeichnung ihrer Merkmale an sie selbst 
erinnert, zu erkennen gebe, daß die richtige Vorstellung des bezeichneten Gegenstandes 
seiner Seele vorschwebt, endlich ob es Ortssinn zeigt, indem es sich fern von 
seinem Hause oder einem anderen Orte durch die von demselben aufgefaßten Merk- 
male zurecht finden kann; 
1860. 16
	        
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