$ 95. Der Schutz der Einzelstaaten. 567
Über diese Fälle hinaus und sie nicht berührend liegt es, wenn
R.V. a. 76 al. 2 anordnet:
„Verfassungsstreitigkeiten in solchen Bundesstaaten, in deren
Verfassung nicht eine Behörde zur Entscheidung solcher Streitig-
keiten bestimmt ist, hat auf Anrufen eines Teiles der Bundesrat
eütlich auszugleichen oder, wenn das nicht gelingt, im Wege der
Reichsgesetzgebung zur Erledigung zu bringen“.
Die hieraus entspringende besondere Kompetenz bestimmt sich
nach folgenden Gesichtspunkten.
I. Oberste Voraussetzung der Reichskompetenz ist eine „Ver-
fassungsstreitigkeit“ im eminenten Sinne. Sie hat zum Inhalt einen Streit
um die Verfassung selbst, d.h. um die objektive Geltung der
Verfassung des Einzelstaates oder einzelner Bestimmungen derselben.
Zu ihrer Begründung genügt nicht die Behauptung, dafs die Ver-
letzung eines aus der Verfassung flielsenden subjektiven Rechtes durch
Niehtanwendung oder unrichtige Anwendung eines Verfassungsgesetzes
erfolgt sei. Ein solcher Streit um verfassungsmälsige Rechte findet
seine regelmälsige Erledigung vor den Instanzen des Einzelstaates.
Allerdings kann sich auch eine Verfassungsstreitigkeit immer nur
an konkreten Fällen entzünden, bei welchen subjektive aus der Ver-
fassung fliefsende Rechte der öffentlichen Organe und selbst Einzelner
im Spiele sind. Allein um einen Streit über verfassungsmälsige Rechte
zur Verfassungsstreitigkeit zu erheben, ist es erforderlich, dafs die
Verletzung des subjektiven Rechtes sich als eine Verneinung der
objektiven Geltung der Verfassung oder eines solchen Rechtssatzes
darstellt, der nach Mafsgabe des Partikularrechtes ein verfassungs-
mälsiger ist. Und dies wird regelmälsig nur unter zwei Voraus-
setzungen eintreten.
Entweder es handelt sich um einen Verfassungsbruch, d.h.
eine thatsächliche Aulserkraftsetzung der Verfassung oder einer Ver-
fassungsbestimmung, sei es unter dem Scheine Rechtens (durch
Octroyierungen oder durch grundsätzliche Anwendung verfassungs-
widriger Normen bei den Entscheidungen und Verfügungen der Re-
sierung), sei es in nackter Thatsächlichkeit (Staatsstreich, Nichtein-
berufung der Volksvertretung).
Oder es liegt ein Verfassungsstreit im engeren Sinne vor,
d. h. ein Rechtsstreit der obersten konstitutionellen Organe des Stäates
über Inhalt und Grenzen ihrer gegenseitigen Rechte und Pflichten.
Denn hier ist um der staatsrechtlichen Stellung der Parteien willen
die Wahrung der subjektiven Rechte identisch mit der Wahrung des
objektiven Verfassungsrechtes selbst.